«Die Pilze sind wunderschön»
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Über 50 Sorten gesammelt:«Die Pilze sind wunderschön»

Pilze sammeln im Sihlwald
Von Glückspilzen und Giftknollen

Pilze sind überall, aber man kann sie leicht übersehen: Sie führen ein Leben im Verborgenen und sind zugleich immens wichtig für unser Ökosystem. Bei einem geführten Spaziergang durch den urwaldähnlichen Sihlwald eröffnet sich ein neues Universum.
Publiziert: 22.09.2024 um 17:12 Uhr
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Aktualisiert: 23.09.2024 um 10:18 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Pilzkurs im Sihlwald enthüllt das verborgene Netzwerk der Natur
  • Teilnehmer lernen, Pilze zu erkennen und ihre Bedeutung zu verstehen
  • Nur 200 von mehreren Tausend Pilzarten sind essbar
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Gourmet oder Gift? In der einen Hand ein Eierschwämmli (l.), in der anderen der Grüne Knollenblätterpilz.
Foto: Siggi Bucher
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Katja RichardRedaktorin Gesellschaft

Über die regennasse Sihltalstrasse brausen die Autos. Nur ein paar wenige Schritte über eine Holzpassarelle, und schon lässt man die Zivilisation hinter sich. Im dichten Grün des Waldes hängen noch Nebelschwaden, bald hört man nur noch das schmatzende Geräusch von Schritten in robusten Schuhen auf dem Waldboden.

Wir sind mit Körben und Sackmessern ausgestattet, der Pilzkurs beginnt im Wildnispark Zürich. «Es geht hier um mehr als nur Gourmet-Botanik», erklärt Kursleiterin Susanne Hofmann (64). «Pilze – egal ob essbar oder ungeniessbar – sind der sichtbare Teil eines viel grösseren Ökosystems, das einen immensen Einfluss auf unser Leben hat. Genau darauf möchten wir eingehen.»

Pilzkurs im Sihlwald mit den Fachleuten Godi Leuthold und Susanne Hofmann.
Foto: Siggi Bucher

Moos bedeckt den Boden, Farne wuchern, und Totholz bietet zahlreichen Organismen ein Zuhause. Es fühlt sich an wie ein Mini-Urwald. Anders als in den meisten Wäldern hierzulande bleibt die Natur hier, im südwestlichen Zipfel des Kantons Zürich, sich selbst überlassen und entwickelt so eine natürliche Dynamik. Die Ranger greifen nur ein, wo es nötig ist, sie räumen Wege frei oder fällen Bäume, die umstürzen könnten, damit sie keine Spaziergänger gefährden.

Der erste Naturerlebnispark der Schweiz

Der Sihlwald ist der erste national anerkannte Naturerlebnispark der Schweiz – und das im sonst dicht besiedelten Mittelland. Pilze zu sammeln, ist hier erlaubt, aber nur in der auf der Karte markierten Naturerlebnis-Zone und ausserhalb der Schonzeiten für Pilze.

Der Co-Leiter des Kurses, Godi Leuthold (60), präzisiert: «Tabu für die Pilzsuche ist die Kernzone, die auf der Karte orange markiert ist.» Dort gelten besondere Vorschriften, zum Beispiel darf man die Wege nicht verlassen und neben den Pilzen auch keine Pflanzen sammeln. Bis in dieses Gebiet würden wir es an diesem Vormittag ohnehin nicht schaffen. 

Wie im Mini-Urwald: die Pilzgruppe im Sihlwald.
Foto: Siggi Bucher

Vorsichtig machen wir die ersten Schritte ins dichte Grün, um Pilze zu sammeln. Manche bleiben in einer der beiden Gruppen, andere erforschen den Waldboden lieber auf eigene Faust. So auch Adrian Sonderegger (44). Der Fotokünstler hat das Pilzeln entdeckt, als er bei einem Bauern auf der Alp war. «Bis jetzt habe ich aber immer nur Eierschwämme und Steinpilze gesammelt. Einfach, wenn sich die Gelegenheit ergeben hat. Allzu viel verstehe ich nicht davon.» Den Kurs wollte er darum schon länger machen, um mehr über Pilze zu erfahren. Die Termine für jeweils 20 Teilnehmende sind jedes Mal rasch ausgebucht. Ihn interessiert aber nicht nur das Wissen rund um die Pilze: «Mich fasziniert es, ganz in die Natur einzutauchen, mit offenen Sinnen und einem Fokus, ohne sich dabei auf ein Ziel zu versteifen.»

Teilnehmer Adrian Sonderegger bringt vom Kurs einen vollen Korb heim.
Foto: Siggi Bucher

Alles ist miteinander verbunden

Das ist ganz im Sinne von Kursleiterin Susanne Hofmann: «Ich empfehle Anfängern, sich einfach mal treiben zu lassen und ihre Wahrnehmung zu schärfen, wenn sie im Wald sind. Natürlich gibt es Anhaltspunkte, wo welche Pilze zu finden sind, aber das ist komplex. Es genügt nicht, nach bestimmten Baumarten Ausschau zu halten.» Sie führt uns in ein Waldstück und rät, nach weissen und gelben Flecken Ausschau zu halten. Mit entspanntem Blick entdeckt man viel mehr. Bei jedem Fund ertönen leise «Ahs» und «Ohs», zwischendurch hört man den Ruf eines Schwarzspechts. Sammeln sollte man die Pilze möglichst vollständig, also inklusive der Stielbasis, um die Art später korrekt bestimmen zu können. 

Ein Täubling wird vorsichtig aus der Erde gedreht – so kann man Pilze besser bestimmen.
Foto: Siggi Bucher

Das, was aus dem Boden ragt und allenfalls auf dem Teller landet, sei übrigens nicht der Pilz, sondern dessen Fruchtkörper, erklärt Hofmann. «So wie der Apfel nicht der Baum ist. Der eigentliche Pilz ist das Mycel, das unter dem Boden und nicht sichtbar ist.»

Hofmann ist seit Jahrzehnten im Naturschutz tätig und hat über die Botanik und die Vogelkunde zur Pilzkunde gefunden. «Das Faszinierende ist, dass alles miteinander verbunden ist – Tiere, Pflanzen und Pilze. Ohne einander könnten sie nicht existieren. Dieses Netzwerk wollen wir sichtbar machen.»

Kein Baum steht für sich allein

Ohne diese unsichtbaren Helfer gäbe es keinen Wald. Kein Baum steht für sich allein. Unter der Erde sind die Wurzeln der Bäume über ein Netz von Pilzfäden, den Hyphen, miteinander verbunden. Ein Pilz kann seine Fäden über mehr als 100 Quadratmeter ausbreiten. Forscher schätzen, dass der grösste Pilz der Welt über eine Fläche von neun Quadratkilometern wächst – das entspricht etwa 1200 Fussballfeldern.

Expertin Susanne Hofmann ist fasziniert vom Ökosystem der Pilze.
Foto: Siggi Bucher

«Baum und Pilz sind immer in Symbiose», sagt Hofmann. Vereinfacht gesagt: Der Pilz liefert Mineralstoffe aus dem Boden, und der Baum gibt ihm im Gegenzug Zucker, den er mithilfe der Fotosynthese herstellt. Diese enge Zusammenarbeit nennt man Mykorrhiza. Mit diesem Wissen erscheint jeder Quadratmeter Waldboden unter unseren Füssen wie ein neues Universum. Vorsichtig durchstreifen wir Schritt um Schritt das dichte Grün.

Zwei Stunden später versammelt sich die ganze Gruppe, um die gefundenen Schätze gemeinsam zu begutachten. Godi Leuthold pickt die Pilze aus den Körben und verteilt sie systematisch auf einem langen Holztisch.

Nur 200 Speisepilze unter mehreren Tausend

Von den mehreren Tausend Grosspilzarten in Europa, also jenen, die von blossem Auge sichtbar sind, sind nur etwa 200 als Speisepilze bekannt. «In der Pilzkontrolle beschränkt man sich auf etwa 80 bis 100 Arten», so Leuthold. «Viele Pilze sind unverträglich, aber nicht toxisch.» Wirklich giftige Pilze, die tödlich sein können, gibt es laut dem Experten vielleicht 20 bis 30 Arten. Einer der giftigsten liegt auf dem Tisch: der Grüne Knollenblätterpilz. Bei neun von zehn Pilzvergiftungen mit Todesfolge ist er verantwortlich. «Sein Giftstoff führt 24 bis 48 Stunden nach dem Verzehr zu Leber- und Nierenversagen», so Leuthold. Er kann je nach Wachstumsstadium mit Champignons und Täublingen verwechselt werden. 

Ein Pilzführer, der alle wesentlichen Punkte abdeckt, damit auch Neulinge unbekannte Pilze zuordnen und gefährliche Verwechslungen ausschliessen können: Franco Del Popolo und Stefan Marxer, «Alles unter einem Hut. Sicher unterwegs in der Pilzwelt», AT Verlag.
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Etwa 50 Pilzarten sind an diesem Vormittag in der Gruppe zusammengekommen. Das ist laut Leuthold für diese Jahreszeit verhältnismässig wenig: «Der viele Regen hat im Mai und Juni zu einem ungewöhnlich grossen Pilzvorkommen geführt, sogar Herbstpilze sind schon aus dem Boden geschossen.» Von Juli bis Mitte August sei bei den Pilzen aber trotz Nässe und Kälte Funkstille gewesen, was ungewöhnlich sei. «Jetzt erholt sich das Vorkommen langsam, es kann sein, dass es im Oktober noch so richtig losgeht. Aber die Bedingungen für das Pilzwachstum sind komplex und nur teilweise erforscht.»

Die grosse Überraschung: Trüffel

Glückspilz: Larissa von Buol hat Sommertrüffel ausgegraben – ohne Hund!
Foto: Siggi Bucher

Für die grösste Überraschung des Tages sorgt der Fund von Larissa von Buol (37). Die Umweltnaturwissenschaftlerin packt ein halbes Dutzend Trüffel aus ihrer Tasche. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Glückspilz. «Ich habe kaum Erfahrung mit Pilzen und bis zum Schluss quasi nichts gefunden», erzählt sie. «Dafür habe ich viele Fotos gemacht, von den Wurzeln und Bäumen. Den Schwarzspecht habe ich auch gesehen.» Bis sie bei einem Baum ein Högerli am Boden entdeckte. «Zuerst dachte ich, das sei ein merkwürdiger Tannenzapfen.» Und dann hat sie gebuddelt. Expertin Hofmann staunt: «Es gibt im Sihlwald Trüffel, aber die findet man normalerweise nur mit einem ausgebildeten Hund. Das habe ich in meinen 15 Jahren als Pilzkursleiterin im Sihlwald noch nicht erlebt.»

Die schöne Nebensache beim Kurs: ein Pilzragout mit Risotto über dem Feuer.
Foto: Siggi Bucher

Auch einige Eierschwämmli sind zusammengekommen. Obwohl der Kurs nicht aufs Kulinarische ausgerichtet ist, ein willkommener Fund. Hofmann hat sicherheitshalber noch einen zusätzlichen Korb voll Pilze mitgebracht, die ihr Mann tags zuvor gesammelt hat. Sie verkocht sie mit ein paar mild schmeckenden Täublingen am offenen Feuer zu einem Risotto. Larissa von Buol spendiert auch einen ihrer Sommertrüffel, er schmeckt erdig – nicht so ganz gourmetmässig wie erwartet. Den Rest hebt sie für ein grosses Festessen mit Familie und Freunden auf: Pasta mit Butter, Rahm – und gehobeltem Trüffel: «Etwas zu kochen, das man selber im Wald gefunden hat, schmeckt ohnehin ganz besonders.»

Pilzkontrollen in der Nähe: vapko.ch
Infos zum Pilzkurs und Pilzspaziergängen im Sihlwald: wildnispark.ch 

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