Pöschwies-Direktor Andreas Naegeli gibt Einblicke ins grösste Gefängnis der Schweiz
Was kostet ein Häftling bei Ihnen?

Andreas Naegeli ist Direktor des grössten Gefängnisses der Schweiz. Im Interview erklärt er, wer bei ihm einsitzt, was in unserer Gesellschaft falsch und was richtig läuft und warum die Reintegration von Straftätern so wichtig ist.
Publiziert: 31.08.2024 um 14:05 Uhr
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Aktualisiert: 02.09.2024 um 11:30 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Im September steht der Strafvollzug und unser Umgang mit Gefangenen im Kanton Zürich gleich mehrfach im Fokus: An der Universität Zürich behandelt eine ganze Vortragsreihe die Frage, wie wir als Gesellschaft mit Straftätern umgehen und was die grössten Probleme im Strafvollzug und bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft sind. Gleichzeitig wird das Theaterstück «Freigänger» der Regisseurin Anna Papst (40) im Theater Rigiblick für drei Vorstellungen wieder aufgenommen. Es beschäftigt sich mit Strafgefangenen, deren Hoffnungen, ihrem äusseren und inneren Weg nach teilweise schrecklichen Taten und damit, wie unsere Gesellschaft mit ihnen umgeht. Einer, der das kennt, ist der Direktor des grössten Gefängnisses der Schweiz: In der Justizvollzugsanstalt Pöschwies mit knapp 400 Plätzen sorgt Andreas Naegeli (61) dafür, dass der Alltag geregelt abläuft, Inhaftierte menschenwürdig behandelt werden und erfolgreich in die Gesellschaft reintegriert werden können.

Herr Naegeli, was für Menschen sitzen bei Ihnen in der JVA Pöschwies?
Andreas Naegeli: Generalisieren ist schwierig, aber ich würde sagen, der gemeinsame Nenner ist: Mir kommen wenige in den Sinn, die «nur» kriminell sind. Sondern da kommen meist psychische Störungen, schwierige Familienverhältnisse schon in der Kindheit oder Suchtproblematiken hinzu.

Also sind Straftäter alles arme Tröpfe?
Nein, natürlich gibt es auch eine Kategorie von Menschen, die einfach gierig sind und denen es egal ist, jemanden zu betrügen oder zu bestehlen. Und es gibt die Sexualstraftäter und Menschen, die aus Zorn, Neid oder dem Wunsch nach einem anstrengungsfreien Leben andere schädigen. Grundsätzlich würde ich aber sagen: Jemand, der in der Schweiz ein erfülltes Leben führt, kommt kaum je zu uns. Und die meisten scheinen ein solches Leben zu haben.

Andreas Naegeli ist Direktor der grössten Justizvollzugsanstalt der Schweiz, dem Pöschwies in Regensdorf ZH.
Foto: Keystone
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Woraus schliessen Sie das?
Aus einem Blick in die Geschichte: 1888 hat es in der Schweiz 6600 Gefängnisplätze gegeben, mit einer Bevölkerung von circa 3,3 Millionen Menschen. Heute sind es etwas mehr als 7000 Gefängnisplätze bei einer Bevölkerung von 8,9 Millionen. Es gibt also in Bezug auf die Bevölkerungsgrösse viel weniger Gefängnisplätze als früher. Der allergrösste Teil der Menschen führt in der Schweiz ein einigermassen gutes Leben. Und wir haben wohl einen angemessenen Umgang mit der Inhaftierung von Straftätern gefunden.

Was hat man denn früher falsch gemacht?
Es hat ja früher schon gereicht, als Vagabund zu gelten, um ins Gefängnis zu wandern. Oder als Frau ein uneheliches Kind zu haben. Heute ist es eher das Ziel, so wenige Menschen wie möglich einzusperren.

Was macht man heute anders?
Wenn es möglich ist, versucht man bei Straffälligkeit alternative Sanktionen anzuwenden und Gefängnisaufenthalte möglichst zu vermeiden. So kommen verschiedene Instrumente zum Einsatz: Geldstrafen, gemeinnützige Arbeit, elektronische Fussfesseln und so weiter.

Weshalb will man Gefängnisaufenthalte vermeiden?
Ein Freiheitsentzug hat nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft viele negative Konsequenzen. Es ist wenig sinnvoll, Menschen aus der Gesellschaft zu nehmen, um sie nachher mühsam und teuer zu reintegrieren. Jene, die dennoch im Gefängnis landen, sind entweder die eher schwereren Fälle oder Fälle, bei denen man von Fluchtgefahr ausgeht.

Wie hoch ist der Ausländeranteil bei Ihnen?
Er ist mit rund 70 Prozent hoch. Aber man kann daraus nicht einfach direkt schliessen, dass Ausländer straffälliger sind als Schweizer.

Weshalb nicht?
Vorneweg: Bei schweren Delikten und Verurteilungen zu langen Freiheitsstrafen gibt es ohnehin meist keine Alternative zum Freiheitsentzug. Zu kürzeren Freiheitsstrafen gibt es diese. Um sie aber anwenden zu können, müssen gewisse Voraussetzungen vorhanden sein: Um eine Geldstrafe bezahlen zu können, muss man die nötigen Mittel haben. Um einen gemeinnützigen Arbeitseinsatz zu leisten, muss man körperlich und kognitiv dazu in der Lage sein. Und um eine elektronische Überwachung anzuordnen, muss der Sträfling überhaupt eine Wohnung haben. Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, bleibt nur der Gefängnisaufenthalt übrig. Auch deshalb sind Ausländer ohne Wohnsitz in der Schweiz dort so überproportional vertreten.

Wer wird am häufigsten straffällig?
Männer – unabhängig von Herkunft oder Nationalität, im Alter zwischen 18 und 30, mit einem tiefen sozioökonomischen Status. Also: jung, männlich, wenig Verdienst, wenige Freunde, wenig Bildung. Natürlich trifft das auf Asylbewerber öfter zu als auf junge Männer, die hier ihre Schule und Ausbildung durchlaufen haben. Bei uns integrierte Ausländer haben mit Schweizern vergleichbare Kriminalitätsraten.

Was wären für Sie gesellschaftliche Massnahmen, die die Anzahl der Inhaftierten weiter verringern würden?
Ich kann da höchstens Ideen beisteuern. Menschen, die ihre Ziele mit ihren Talenten und ihrer Arbeit erreichen können, die über verbale Konfliktlösungsstrategien verfügen, die sozial eingebettet sind, werden sehr selten straffällig. Auf der anderen Seite sind Druck auf die wirtschaftliche Existenz oder unerfüllte Lebensträume eine Motivation, straffällig zu werden. Ich empfinde unsere Gesellschaft in dieser Beziehung manchmal als unehrlich.

Inwiefern ist die Gesellschaft unehrlich?
Wir sagen jedem Kind, die Welt stehe ihm offen, wenn es denn nur fleissig sei, könne es alles erreichen. Dabei schafft nur ein kleiner Teil der Bevölkerung wirklich durch Arbeit einen sozialen Aufstieg. Auch unser sicher sehr gutes Bildungswesen ist viel weniger durchlässig, als wir es gerne hätten. Es ist ja nachgewiesenermassen so, dass Kinder von Akademikern mit grösserer Wahrscheinlichkeit selber auch einen höheren Bildungsabschluss erreichen. Und es gibt ja doch auch noch einige hohle Ideale in unserer Gesellschaft.

Welche?
Also, wenn ich denke, dass junge Menschen wirklich glauben, dass sie mit aufgespritzten Lippen oder einem geleasten Ferrari zu reichen Influencern werden, dann setzt unsere Gesellschaft einfach Fehlanreize durch Social Media.

Was wären denn konkret Lösungen?
Angemessene Mindestlöhne, bezahlbarer Wohnraum, Investitionen in Bildung und ein gutes Freizeitangebot für junge Menschen. Mehr Jugendarbeit und Schulsozialarbeit. Genügend und gute Lehrer für kleinere Klassen. Und ausreichende Plätze in der Psychiatrie. Da herrscht auch grosser Mangel. Das alles muss auch etwas kosten dürfen, weil diese Massnahmen schlussendlich mehr sparen werden, als sie die Gesellschaft kosten.

Sie haben vorher von teurer Reintegration gesprochen. Was kostet eine inhaftierte Person bei Ihnen?
327 Franken pro Tag im Normalvollzug. Dazu kommen noch die Kosten für eine allfällige psychotherapeutische Behandlung. Die «teuersten» Inhaftierten bei uns sind die im stationären Massnahmenvollzug, diese kosten 819 Franken pro Tag. Dort wird aber auch intensiv therapiert und besonders eng betreut.

Unglaublich! Das sind über 20'000 Franken im Monat!
Ja, aber es ist nötig, dass wir bei diesen Männern investieren. Sie haben schwere Gewalt- und Sexualdelikte begangen und brauchen eine intensive Behandlung, damit eine Veränderung gelingen kann. Wir setzen die uns zur Verfügung stehenden Mittel so zielgerichtet wie möglich ein und richten uns konsequent auf unseren Auftrag, die Resozialisierung und Wiedereingliederung der eingewiesenen Personen, aus. Wenn man diese Ziele erreichen will, dann geht das nur mit genug und gut ausgebildetem Personal. Langfristig zahlt sich das aber aus, wenn damit eine Entlassung in die Freiheit möglich wird und es keine weiteren Opfer mehr gibt.

Andreas Naegeli, der Gefängnisdirektor, der eigentlich Bauer ist

Andreas Naegeli (61) ist seit bald 12 Jahren Direktor der grössten Schweizer Justizvollzugsanstalt, der JVA Pöschwies. Als er im Alter von 16 Jahren zur Konfirmation einen Haflinger geschenkt bekam, führte ihn dieser sozusagen auf neue Lebenspfade: Der Berufswunsch Bauer wurde immer stärker. Naegeli brach in der Folge ein Jahr vor der Matura das Gymnasium ab und machte eine Landwirtschaftslehre. Nach einem Diplom als Agraringenieur und einer Karriere im Militär begann er, Landwirtschaftsbetriebe zu beraten. 1998 wurde er Vize-Leiter der Justizvollzugsanstalt Bostadel in der Zuger Gemeinde Menzingen. Naegeli hat sich kontinuierlich berufsbegleitend weitergebildet, zuletzt mit einem Masterabschluss in Forensischer Psychologie. Er ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder, lebt ländlich und hält Islandpferde.

Poeschwies

Andreas Naegeli (61) ist seit bald 12 Jahren Direktor der grössten Schweizer Justizvollzugsanstalt, der JVA Pöschwies. Als er im Alter von 16 Jahren zur Konfirmation einen Haflinger geschenkt bekam, führte ihn dieser sozusagen auf neue Lebenspfade: Der Berufswunsch Bauer wurde immer stärker. Naegeli brach in der Folge ein Jahr vor der Matura das Gymnasium ab und machte eine Landwirtschaftslehre. Nach einem Diplom als Agraringenieur und einer Karriere im Militär begann er, Landwirtschaftsbetriebe zu beraten. 1998 wurde er Vize-Leiter der Justizvollzugsanstalt Bostadel in der Zuger Gemeinde Menzingen. Naegeli hat sich kontinuierlich berufsbegleitend weitergebildet, zuletzt mit einem Masterabschluss in Forensischer Psychologie. Er ist verheiratet, Vater zweier erwachsener Kinder, lebt ländlich und hält Islandpferde.

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Was heisst Resozialisierung sonst noch genau, welche Massnahmen gehören dazu?
Dass man beispielsweise den Inhaftierten die Möglichkeit gibt, Kontakt zur Aussenwelt zu pflegen, mit Telefongesprächen, Besuchen oder bei Hafturlauben. Dass sie arbeiten, eine Aus- oder Weiterbildung im Gefängnis absolvieren können, damit sie später auf dem Arbeitsmarkt eine Chance haben. Dass sie im Gefängnis eine Schuldenberatung bekommen, die Krankenkasse geregelt ist und wir ihre psychischen Probleme angehen. Dass man sie nach dem Gefängnis nicht einfach auf die Strasse stellt, sondern ihnen bei der Unterbringung hilft und sie auch in der ersten Zeit in Freiheit begleitet. Dass wir sie mit Arbeitgebern zusammenbringen, die bereit sind, Ex-Häftlinge einzustellen. Da würde ich mir mehr Unterstützung von den Leuten draussen wünschen.

Inwiefern?
Hand aufs Herz: Würden Sie einen Ex-Sträfling einstellen oder ihm eine Wohnung geben? Das braucht schon auch eine Bereitschaft, mögliche Misserfolge in Kauf zu nehmen. Der Übergang zu einem Leben in Freiheit ist anspruchsvoll.

Wie ist es eigentlich, im Gefängnis zu sein?
Fremdbestimmt. Man ist ja nicht nur hinter dicken Mauern eingesperrt, sondern man kann wenig selber entscheiden. Andere bestimmen darüber, wann man aufsteht, wann, was und wie viel man isst, was man arbeitet, was man anzieht, wann man mit anderen sprechen kann und wann nicht – das ist für niemanden lustig.

Moment, gerade letzthin hat der Blick über Nordafrikaner berichtet, die unsere Gefängnisse als Paradies bezeichnen …
Ja, und da sind wir sofort in einer komplexen moralischen und gesellschaftspolitischen Diskussion drin. Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Schweizer Familienvater, der ins Gefängnis muss und sein Einkommen und seine Reputation deshalb verliert. Für ihn ist der Gefängnisaufenthalt der Super-GAU. Nun nehmen Sie jemanden, der aus einem Land kommt, in dem er hungerte, der noch nie auf einer Matratze schlafen konnte, der noch nie ein Zimmer für sich allein hatte. Für ihn ist ein Aufenthalt in einem Schweizer Gefängnis mit drei Mahlzeiten am Tag tatsächlich eine Verbesserung seiner Umstände.

Müsste man diese Umstände respektive Haftbedingungen in diesem Fall nicht ändern?
Nein, ich glaube nicht, dass uns das weiterbringen würde. Man müsste ja sonst verschiedene Gefängnisse für verschiedene Menschen bauen. Und da würde es moralisch sehr schwierig werden: Will man Menschen aufgrund ihrer Herkunft und vorheriger Erfahrungen unterschiedlich behandeln? Dann hätten wir eine Klassengesellschaft bei den Inhaftierten. Und wer würde aufgrund welcher Kriterien entscheiden, zu welcher «Klasse» nun ein Mensch gehört? Das wäre moralisch sehr schwierig. Ich bin jedenfalls froh, dass wir in einem Land leben, das auch Inhaftierte so behandelt, wie es die Menschenrechte vorsehen. Mit menschenwürdigen Bedingungen und dem Fokus auf Resozialisierung.

Veranstaltungshinweise: 

Öffentliche Vortragsreihe an der Universität Zürich über diverse Aspekte des Strafvollzugs und der Wiedereingliederung vom 23. September bis 16. Dezember 2024. Anmeldung und Flyer mit einzelnen Vorträgen. 

Theaterstück «Freigänger», Vorstellungen am 24., 25., 26. September 2024, Theater Rigiblick, Zürich, Tickets 30 Franken. 

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