Wo Busse in die Ferne fahren
Der meistunterschätzte Ort von Zürich

Im Sommer reisen viele zu ihren Familien in die Heimat, in den Osten. Viele nehmen den Bus. Dem Abfahrtsort am Zürcher Sihlquai müsste man mehr Aufmerksamkeit schenken. Er ist ein Stück Schweizer Geschichte.
Publiziert: 29.07.2023 um 15:17 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2023 um 16:32 Uhr
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Aleksandra HiltmannRedaktorin Gesellschaft

Er liegt gleich hinter dem Hauptbahnhof Zürich, keine zwei Minuten zu Fuss entfernt von der nächsten Unterführung, die zu den Gleisen führt. Aber er ist unscheinbar. Der Carparkplatz Sihlquai.

Keine grossen Schilder, keine schöne Ankunftshalle, keine elektronische Anzeigetafeln mit Abfahrten und Ankünften. Und doch: Er verbindet die Schweiz mit ganz Europa. Die Busse, die dort abfahren, bringen Leute in Nachbar- oder weiter entfernte Länder.

Meine frühste Erinnerung an diesen Parkplatz hinter dem Hauptbahnhof beginnt so: Es ist ein dunkler, gruseliger Ort. Ein Ort, zu dem meine Mutter immer wieder fuhr und wir nie wussten, wann sie wieder nach Hause kommt.

Er sieht nicht unbedingt schön aus, der grosse Parkplatz hinter dem Hauptbahnhof Zürich, wo Fernbusse abfahren und ankommen.
Foto: Aleksandra Hiltmann
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Der Carparkplatz Sihlquai bei Nacht. Ein etwas unheimlicher Ort.
Foto: Aleksandra Hiltmann

Meine Mutter stammt aus Polen. Der Carparkplatz Sihlquai war der Ort, an den sie Verwandte, Bekannte oder nur Gepäck bringen und abholen ging. Besonders beim Abholen wusste man nie, wie lange das dauert. Damals gab es keine Handys. War der Bus aus Polen verspätet, erfuhr man das nicht. Man wartete. Manchmal sehr lange. Bis es dunkel wurde. Auch im Winter. Und wir Kinder warteten zu Hause.

Heute sind viele, die dort losfuhren und ankamen, auf Flugzeuge umgestiegen. Und jene, die doch den Bus nehmen, können unterwegs problemlos telefonieren und ins Internet.

Was bleibt: dass der Carparkplatz weiterhin ein wichtiger – und auch unterschätzter – Ort ist. Ein Ort, an dem viele grosse Fragen zusammenkommen, die dieses Land jetzt beschäftigen und es in Zukunft tun werden. Und er ist ein Zeitzeuge. Ein stiller, unprätentiöser, aber eigentlich einer, der viele Geschichten erzählt.

In der Sommersaison herrscht Hochbetrieb. Bitola, Gjilan, Beograd. Zoran Travel, Rinori Travel, Durmo Tours. Mehrere Busse gleichzeitig werden beladen, um in Richtung Balkan zu fahren. Sie bleiben ein zentrales Verkehrsmittel, um dort Familie und Freunde zu besuchen. Und um zu transportieren, was «unten» gebraucht wird.

Nebst Koffern bringen die Leute Fahrräder, Gartenwerkzeug, Kinderwagen, Elektrogeräte. Damals waren in den Taschen, die meine Mutter jeweils dem Buschauffeur übergab, auch Medikamente, Kaffee, Winterkleider, Winterschuhe.

Ein Stück Heimat beginnt bereits im Bus

Für viele ist die alte oder zweite Heimat auch ein Ferienland. Aber nicht nur. Es ist auch ein Ort, von dem viele aus verschiedenartigen Gründen weggingen. Ein Studium, eine Liebe. Eine Saison, ein fixer Job, die Familie. Ein Regime. Der Krieg. Perspektivlosigkeit.

Einiges hat sich heute zum Besseren gewendet. Der Eiserne Vorhang ist weg, Friedensverträge wurden unterzeichnet. Trotzdem: Die Durchschnittslöhne auf dem Balkan und in Osteuropa sind tief, ebenso die Renten. Viele, die in der Schweiz leben, unterstützen ihre Familien nach wie vor. Mit Geld, aber auch mit Gebrauchsgegenständen, die in all den Bussen mitfahren.

Eine Tasse Kaffee, um die Zeit vor der Abfahrt zu überbrücken.

Die Busse sind da wie ein Stück einer Heimat, die bereits in Zürich beginnt. Denn dass Güter per Bus «verschickt» werden, hat auf dem Balkan System. Der Journalist Ilir Gashi schreibt darüber, was er selbst alles zwischen Kosovo und Serbien für verschiedene Leute transportiert hat: eine Puppe, einen Wohnungsschlüssel, Getränke, Bücher, Fotofilme. Für seine Recherche zu diesem informellen Postsystem wurde er ausgezeichnet, sein Artikel erschien erst im Magazin «Kosovo 2.0», später im «Guardian».

Auch hört man in Zürich bereits andere Sprachen als Deutsch vor dem Bus: Albanisch, Mazedonisch, Serbisch. Es wird Kaffee ausgeschenkt. Man hat ein eigenes Ticketsystem, das vor allem über Telefonreservationen funktioniert. Wie im Balkan sieht man auch hier Beifahrer im Bus, die sich darum kümmern, dass alle Passagiere ihren Platz im Bus finden und die Billette bezahlen.

Fakten zu Busfahrten Schweiz–Serbien

Marko Pantić ist in dritter Generation Busunternehmer und Geschäftsführer von Optop Travel. Seine Busse fahren zwischen der Schweiz und Serbien. «Durchschnittlich transportieren wir pro Monat 1500 bis 2000 Passagiere», erzählt er am Telefon. Das ganze Jahr über fährt täglich ein Bus. Während der Hochsaison im Sommer seien es auch mal zwei oder drei.

Eine Fahrt von der Schweiz nach Serbien kostet bei ihm 110 Franken, retour 170. Ein «offenes Ticket» kostet 200 Franken. Da könne man innerhalb von 3 Monaten flexible Abfahrtstage auswählen.

Die Fahrt von Zürich nach Belgrad dauert, mit Pausen, ungefähr 17 bis 19 Stunden.

Die Konkurrenz für Marko Pantićs Busse: billige Flugzeugtickets. Warum wollen dennoch viele Menschen mit seinem Unternehmen reisen? «Weil die Leute viel Gepäck mitnehmen können.» Und weil sie die Möglichkeit hätten, an verschiedenen Haltestellen ein- und auszusteigen, in der Schweiz wie in Serbien.

Marko Pantić ist in dritter Generation Busunternehmer und Geschäftsführer von Optop Travel. Seine Busse fahren zwischen der Schweiz und Serbien. «Durchschnittlich transportieren wir pro Monat 1500 bis 2000 Passagiere», erzählt er am Telefon. Das ganze Jahr über fährt täglich ein Bus. Während der Hochsaison im Sommer seien es auch mal zwei oder drei.

Eine Fahrt von der Schweiz nach Serbien kostet bei ihm 110 Franken, retour 170. Ein «offenes Ticket» kostet 200 Franken. Da könne man innerhalb von 3 Monaten flexible Abfahrtstage auswählen.

Die Fahrt von Zürich nach Belgrad dauert, mit Pausen, ungefähr 17 bis 19 Stunden.

Die Konkurrenz für Marko Pantićs Busse: billige Flugzeugtickets. Warum wollen dennoch viele Menschen mit seinem Unternehmen reisen? «Weil die Leute viel Gepäck mitnehmen können.» Und weil sie die Möglichkeit hätten, an verschiedenen Haltestellen ein- und auszusteigen, in der Schweiz wie in Serbien.

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Und die Leute, die einsteigen – wie lange werden sie das noch tun? Ihr Leben lang? Werden ihre Kinder später nachrücken, ihre Enkel? Werden Letztere die Sprache noch sprechen? Die Familie vor Ort unterstützen? Heimweh haben?

Wie werden die Beziehungen zu all den verschiedenen Herkunftsländern, die in Menschen, die in der Schweiz leben, zusammenkommen, in Zukunft sein?

Der Parkplatz soll unbedingt bleiben

Wird man sich erinnern an die Opfer, die ältere Generationen gebracht haben für ein besseres Leben der Nachfolgenden? Wird sich die Schweiz daran erinnern?

Unter anderem deshalb ist dieser Parkplatz wichtig. Für mich ist er eine Art lebendiges Denkmal für die Migration. Dafür, dass so viele hergekommen sind, um an diesem Land zu arbeiten, es gross zu machen und das Beste für ihre Familien zu wollen.

Mag dieser Platz vernachlässigt und etwas entrückt wirken, neben dem gut getakteten, aufgeräumten Hauptbahnhof. Ich hoffe, er bleibt. Ich hoffe, er wird erhalten, geschützt. Nicht überbaut. Nicht gentrifiziert. Er ist ein Monument für so viele Leben in diesem Land. Er ist ein Stück Schweizer Geschichte.

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