Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die grosse Verstörung

Neulich sagte Ignazio Cassis: «Man fragt sich, in welche Welt man da geraten ist.» Wenn sich aber schon Bundesräte in der Corona-Welt kaum zurecht finden, verwundert es nicht, wenn andere komplett den Kompass verlieren.
Publiziert: 17.05.2020 um 09:43 Uhr
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Aktualisiert: 17.05.2020 um 10:52 Uhr

Die Männer zogen von Stadt zu Stadt. Mal waren es ein paar Dutzend, mal Hunderte. Sie versammelten sich auf den Plätzen, entkleideten den Oberkörper und baten Gott um Vergebung für die Sünden der Welt. Dann peitschten sie sich ­blutig.

Das war in der Mitte des 14. Jahrhunderts, als Europa von der ­Pest heimgesucht wurde. Je schlimmer die Seuche wütete, desto grösser wurde die Be­wegung der Geissler. Der Schriftsteller Egon Friedell (1878–1938) nannte das Phänomen eine ­Psychose und Parallelepidemie.

Neulich wurde Ignazio Cassis nach seinem Befinden gefragt. «Manchmal etwas surreal», ­ entgegnete der Aussenminister. «Man fragt sich, in welche Welt man da geraten ist.»

Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.

Wenn sich schon Bundesräte ­wegen Corona kaum zurecht­finden, verwundert es nicht, wenn andere komplett den ­Kompass verlieren. Und sich die Geissler unserer Zeit zu Kund­gebungen treffen, so wie gestern in Bern und Zürich.

Mein Kollege Fabian Eberhard ist eingetaucht in die Welt der Anti-Corona-Demonstranten. Was er in der neuesten Ausgabe des SonntagsBlick berichtet, ist verstörend. In den führenden Köpfen dieser Bewegung spuken die wildesten Verschwörungstheorien herum.

Ihren Anhängern geben solche Theorien das Gefühl, den Überblick zu behalten. Fehlende ­ Plausibilität ist da nicht das ­Problem, im Gegenteil. Auch die katholische Kirche kennt den Leitsatz: Credo quia absurdum – ich glaube, weil es absurd ist.

Die wirkungsmächtigste Verschwörungstheorie allerdings ist der Nationalismus. Sie besagt: Alles Böse kommt von jenseits der Grenze. Auch dieser alte Glaube erfreut sich derzeit offenbar wachsender Popularität. Die Redaktoren Camilla Alabor und Simon Marti vermelden im neuen SonntagsBlick: Die SVP erhofft sich von der Corona-Krise Schub für ihre Volksini­tiative zur endgültigen Abschaffung der ­Personenfreizügigkeit mit der EU.

Gestern wurde das Grenzregime zu Deutschland und Österreich etwas gelockert. Jetzt berechtigen nicht mehr allein die ­Arbeit und ein Trauschein zum Grenzübertritt. Mitte Juni könnte der Verkehr in diese Länder wieder ganz frei fliessen.

Für den Augenblick bergen offene Grenzen unter Umständen ein kleines medizinisches Risiko. Das macht diesen Schritt hin zur Normalität automatisch zu einem politischen Wagnis.

Wahr ist aber auch – und dies weit über den Augenblick hinaus: Fast jeder zweite Spitalarzt in der Schweiz hat einen ausländischen Pass, beim Pflegepersonal ist es ein Drittel. Novartis beschäftigt hierzulande über 12'000 An­gestellte. Davon sind 72 Prozent Ausländer. In den Schweizer Laboren von Roche beträgt der Ausländeranteil sogar 74 Prozent.

Von den neun Schweizer Nobelpreisträgern in Medizin war einer eingebürgert, einer lebte nie in der Schweiz, ein Dritter war schweizerisch-italienischer ­Doppelbürger. Und acht von neun forschten zeitweilig im Ausland.

Unser Gesundheitswesen ist das Gegenteil von national ­beschränkt. Den Schweizern ist das nicht schlecht bekommen.

Dass Corona jetzt den Nationalismus befördern soll – das wäre völlig absurd. Aber ja, das ­Absurde gehört nun einmal zu ­jeder Verschwörungstheorie.

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