Editorial zum Rechtsrutsch in Europa
Friedrich Merz lag unheimlich richtig

Wer mag sich noch an die Aufregung um die «deutsche Leitkultur» erinnern? Die Debatte wirkt heute wie aus einer anderen Epoche.
Publiziert: 16.06.2024 um 07:14 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Wer sich vor Augen führen will, wie sich die Zeiten in Europa in den letzten Jahren geändert haben, soll nach Deutschland blicken, genauer: zu Friedrich Merz. Der CDU-Vorsitzende befindet sich gerade im Höhenflug; seine Partei schnitt bei den Europawahlen ordentlich ab. Anschliessend las er in einer Fernsehshow den beiden Volksverführerinnen Weidel und Wagenknecht wegen ihrer Putin-freundlichen Haltung wortreich die Leviten («Chamberlain spielen wir in Deutschland nicht»). Es war sein TV-Moment, vielleicht ist es sein Politiker-Moment.

Friedrich Merz – war da nicht mal was? Rückblende ins Jahr 2000. Als CDU-Fraktionschef im Bundestag plädierte er in einem Zeitungsinterview für eine deutsche «Leitkultur», der sich Einwanderer anzupassen hätten – und handelte sich das ein, was man heute einen Shitstorm nennen würde. Merz wurde zum Buhmann in Schröder-Deutschland, seine Gegner höhnten, die Satiriker zeigten keine Gnade.

Heute würde ein Volksvertreter mit derselben Aussage kaum mehr Echo hervorrufen als eine Kritzelei in der Schultoilette. Die Koordinaten auf der Gesinnungslandkarte haben sich verschoben. Politische Parvenüs wie die AfD oder das «Bündnis Sahra Wagenknecht» loten heute die politischen Grenzen aus. Die Idee einer Leitkultur hingegen, ob diese nun deutsch, europäisch, westlich oder abendländisch genannt wird, gehört längst zum Repertoire des Mainstreams. Und dies aus einem so einfachen wie tragischen Grund: Wenn Spinner mit Migrationsvordergrund Mitmenschen mit Messern angreifen – wie jüngst in Mannheim, als ein junger Polizist nach der Attacke eines afghanischstämmigen Asylsuchenden starb –, wenn Islamisten in Hamburg für die Errichtung eines Kalifats demonstrieren oder gekränkte Ehemänner ihre Frauen ermorden, dann weckt das die leise Sehnsucht nach Werten, die sich von solch lebensgefährlichem Mist abgrenzen.

Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier

Solange die etablierten Parteien darauf keine glaubwürdige Antwort geben können, werden Populistinnen wie Weidel und Wagenknecht weiter zulegen – es sei denn, Leute wie Merz haben wieder dasselbe Gespür wie dazumal.

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