«Schneekönig» Reinhard Lutz
«Escobar war eigentlich ein lieber Mensch»

Einst kontrollierte er den Kokainhandel in der Schweiz. Dann fiel er tief. Heute warnt Reinhard «Reini» Lutz vor einer neuen Drogenepidemie. Ein Gespräch über illustre Kunden, die Verlockung des Geldes und das Fentanyl-Risiko.
Publiziert: 17.08.2024 um 17:58 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2024 um 14:51 Uhr
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Dreimal entdeckte Reinhard «Reini» Lutz (69) für sich die Berufung seines Lebens. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen in Männedorf ZH, schlitterte der gelernte Handwerker in den Siebzigerjahren in den Drogenhandel. In den Achtzigern wurde er zum Koksdealer der Nation. Lutz war der Schweizer Vertrauensmann des bolivianischen Drogenbarons Roberto Suárez Gómez (1932–2000). Zu jener Zeit stieg der weltweite Konsum des Rauschgifts sprunghaft an; der Pop wurde zur Leitkultur, die Wohlstandsgesellschaft feierte den Hedonismus – und Lutz lieferte einer ganzen Generation dafür den Treibstoff.

Dann folgten Flucht und immer wieder Haft – Lutz hat bislang gut die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht. 2017 wurde er nochmals zu siebeneinhalb Jahren verurteilt. Der einstige «Schneekönig» fand nach und nach in die Rolle des geläuterten Häftlings, der die Öffentlichkeit vor dem Risiko neuartiger, tödlicher Designerdrogen warnt. Nun hat er zu diesem Thema ein Buch verfasst: «Drogen-Eskalation Schweiz» soll im Herbst auf den Markt kommen.

Und die dritte Berufung des Reini Lutz? Als freier und glücklicher Ehemann das Leben mit seiner Frau Edith zu gestalten, einer gebürtigen Ecuadorianerin. Lutz hofft auf seine Entlassung im Herbst. Blick besuchte ihn in der Strafvollzugsanstalt Realta im bündnerischen Domleschg.

Reinhard Lutz mit seiner Frau Edith vor der Strafvollzugsanstalt Realta im bündnerischen Domleschg.
Foto: Reza Rafi
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Herr Lutz, wie fühlt es sich an, ein Kilo Kokain in der Hand zu halten? Wie riecht das überhaupt?
Reinhard Lutz: Was das Riechen betrifft, gibt es unterschiedliche Aspekte. Früher wurde Kokain mit Äther, Aceton und Salzsäure hergestellt ...

Damit extrahiert man den Wirkstoff aus den Blättern der Kokapflanze.
Genau. Das war gute Qualität. Dann wurde in Südamerika der Verkauf von Äther und Aceton gestoppt. Worauf die Hersteller auf Kerosin umstiegen, also Flugbenzin. Das riecht dann ganz anders. Und das Gefühl? Na ja! Wenn man damit handelt, sieht man nur das Geld, das man in diesem Moment verdient.

Eigentlich müsste der Händler selbst probieren, ob die Ware gut ist.
Dafür gibt es andere Testmöglichkeiten. Ich hatte zeitweise dreissig Firmen, ich hätte nicht arbeiten können, wenn ich high gewesen wäre.

Das Blut, das sprichwörtlich an dem weissen Pulver klebt, das Elend der Sucht, das damit verbunden ist, das sieht man nicht mehr?
Nein, das sieht man dann nicht.

Urteilen Sie heute, im Nachhinein, anders?
Ich finde vor allem traurig, was aus der ganzen Geschichte geworden ist. Früher wurde nur geschnupft. Sicher gab es in den 70er-Jahren LSD und in den 90ern kam Ecstasy hinzu, aber der Wandel kam erst mit der Aufbereitung und Konsumform von Kokain. Heute wird es auch in Form von Freebase und Crack konsumiert, die viel stärker abhängig machen und alles verändert haben. Das ist für mich ein Missbrauch von Kokain.

Jetzt verharmlosen Sie doch. Das Rauschgift Kokain ist in allen Konsumformen schädlich, etwa für den Herzkreislauf und die psychische Gesundheit.
Natürlich. Aber mit den Schnupfern hatte man nie Probleme, anders als mit Freebase- und Crack-Konsumenten. Heute kommen noch Stoffe wie Ketamin, Crystal Meth und vor allem Fentanyl dazu. Die Konsumenten hängen schon im Tessin herum, in Basel, in Zürich, hier oben in Chur …

Fentanyl ist ein missbräuchlich verwendeter pharmazeutischer Stoff mit hohem Todesrisiko …
Der viel billiger und stärker ist als etwa Heroin – eine Entwicklung, vor der ich schon lange warne. Vor ein paar Monaten schlug Interpol Alarm, Europa solle sich vor Fentanyl in Acht nehmen. Die Jungen heute wissen gar nicht mehr, was sie konsumieren. Da ist so viel Mist drin!

Gemäss den Zahlen der Polizei ist heute so reiner Stoff im Umlauf wie noch nie!
In Amsterdam und Rotterdam kann man neue Streckmittel kaufen, die darauf ausgelegt sind, bei Tests einen hohen Reinheitswert anzugeben. Pablo Escobar und Roberto Suárez hatten mir damals gesagt, dass sie gar keine höhere Reinheit als 92, 93 Prozent erreichen könnten.

Sie erwähnen die beiden damals berüchtigtsten Drogenbarone Südamerikas, die für Tausende Tote verantwortlich waren. Der Kolumbianer Pablo Escobar ist 30 Jahre nach seinem Tod durch die Netflixserie «Narcos» zur Kultfigur geworden. Wie war er im persönlichen Umgang?
Im persönlichen Umgang war er eigentlich ein sehr lieber, gar ein liebenswürdiger Mensch. Der hätte alles für einen getan. Aber jeder wusste: Wenn du gegen ihn agierst, bist du tot. Geköpft …

… oder Schlimmeres.
Ich erspare Ihnen jetzt an dieser Stelle die Foltermethoden.

Wie viele Sicherheitsschleusen mussten Sie für ein Treffen mit Escobar passieren?
Das war nicht einmal so extrem. Mein Freund Roberto Suárez …

Der Bolivianer galt seinerzeit als weltweit grösster Kokainproduzent …

Ich hatte Roberto einst an der Copacabana in Rio kennengelernt. Er hat mir dann Escobar vorgestellt.

In Rio?
Nein, in Kolumbien. Zuerst ging ich zu Suárez nach Bolivien, der brachte mich dann zu Escobar.

In sein berühmtes Anwesen mit dem Zoo?
Nein, wir trafen uns in einem Restaurant in Medellín. Er kam mit etwa zwanzig Bodyguards. Escobar wurde damals in Kolumbien verehrt! Der hatte keine Angst, dass er verraten oder gar verhaftet würde. Später erfuhr ich, dass US-Drogenfahnder der DEA und der CIA Fotos von unserem Treffen machten. Sie meinten, dass ich einen Handel in Europa aufziehen wolle. Was aber nicht stimmte.

Soso. Sie besuchten zwei Drogenproduzenten, um ihre Briefmarkensammlung zu betrachten?
Pablo sagte mir: Hör zu, mich interessiert Europa gar nicht. Ich liefere zehn bis zwanzig Tonnen pro Woche nach Nordamerika. Für Escobar war Europa also ein viel zu kleiner Markt. Er sagte mir: Ich schenke dir tausend Kilo, aber organisieren musst du die Sache selber.

Was wollte er dann von Ihnen?

Er wollte Geld waschen und anlegen. Als Schweizer stand man damals gut da. Aber diesen Dienst konnte ich ihm nicht erweisen. Ich war ja auf der Flucht.

Wer waren Sie für ihn? El Suizo?
Nein, zu jener Zeit war ich unter falschem Namen unterwegs, als Rolf Hogervorst.

Das war 1985, als auch via «Aktenzeichen XY … ungelöst» nach Ihnen gefahndet wurde.
Genau (lacht).

Ein enger Weggefährte von Ihnen war nicht Escobar, sondern Suárez. Er kontrollierte ganz Bolivien und zeitweise sogar den Präsidenten. Er gilt als derjenige, der Escobar in den Kokainhandel brachte.
Roberto war der Humanere von beiden. Ihm wäre es auch nie in den Sinn gekommen, wie Escobar Bombenanschläge zu verüben.

Jetzt kommen mir vor Rührung die Tränen – ich bitte Sie: Für Sie lief doch alles bestens! Suchtmittel wie Heroin oder Crack haben ein Loser-Image. Das war damals bei Kokain anders. Das Pulver war die Droge der Avantgarde, der Künstler, der Kreativen, der Musiker und Szene-Gastronomen.
Ich belieferte auch viele Ärzte und Anwälte …

… und plötzlich stand Reini Lutz, der Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus einfachem Hause, inmitten der Society.
Namen nenne ich keine. Aber es gab schon lustige Begegnungen und Freundschaften. Legendär waren die Abende bei H. R. Giger ...

Dem «Aliens»-Künstler und Oscarpreisträger.
Der rief jeweils an und liess mich die ganze Nacht nicht mehr gehen. Manchmal meldete er sich um 3 Uhr früh und klagte, dass er seine Katze nirgendwo finde.

Trotz allen Glamours: Sie haben mit vielen Jahren Knast gebüsst und auch viel Schlechtes gesehen. Was würden Sie heute Jugendlichen raten, damit sie nicht auf die schiefe Bahn geraten?
Ich würde sie warnen, Beispiele von einzelnen Menschen bringen. Denn ich sah, was aus manchen Leuten wurde, die abgestürzt sind, die wegen der Drogen alles verloren.

Waren die Leute in Ihren Kreisen seinerzeit bewaffnet oder wurden Geschäfte per Handschlag gemacht?
Der Unterschied ist: Früher konntest du den Leuten vertrauen. Man konnte jemandem fünf oder zehn Kilo auf Kommission geben. Man wusste, der kommt zurück und wird das Geld bringen. Heute könntest du jemandem nicht mal zehn Gramm geben. Der würde nicht das Geld bringen, sondern die Telefonnummer wechseln. Als ich einmal im Hafturlaub war, sagt mir ein stadtbekannter Drogenfahnder: «Als ihr im Kreis 4 das Sagen hattet, wussten wir, was ihr macht, wer von euch dealt. Ab und zu gabs eine Schlägerei. Der grösste Fehler war es, euch zu verhaften. Denn dann übernahmen ausländische Banden das Geschäft, und die schiessen und stechen.»

Soll man Drogen legalisieren? In manchen Städten kommt wohl demnächst die staatlich kontrollierte Kokain-Abgabe.
Ich halte nicht so viel davon. Du machst damit einfach den Dealern eine Freude.

Stimmt nicht, der Preis würde sinken, was den Handel unattraktiver macht.
Am Anfang vielleicht, danach aber nicht mehr. Und die Anzahl der Konsumenten würde sprunghaft ansteigen. Weil sich dann auch Leute sagen würden, die vielleicht Angst vor der Konsumation hätten: Jetzt darf ich ja, staatlich abgesegnet. Aber der Drogenkrieg ist verloren. Weltweit. Das sehen die Politiker nun langsam ein.

Für Sie selbst ist das Thema hoffentlich erledigt?
Auf jeden Fall! Wenn ich draussen bin, will ich mit Edith die Freiheit geniessen. Und endlich wieder arbeiten. Ich habe so viele Projekte, die auf mich warten. Vielleicht werden wir auch auswandern.

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