Wie unabhängig ist die Wissenschaft?
Kassieren geht über Dozieren

Uni-Lehrstühle, Fachmagazine, einflussreiche Institute. Pharma-Gelder fliessen in grossen Mengen an die Wissenschaft.
Publiziert: 12.04.2019 um 23:46 Uhr
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Aktualisiert: 13.04.2019 um 16:33 Uhr
Vinzenz Greiner, Simon Huwiler und Sermin Faki

Apotheken, Hausärzte, Spitäler. Überall steckt Geld aus der Pharmaindustrie. Die Geldspritzen sind riesig: Fast 458 Millionen Franken drückten Pharmafirmen von 2015 bis 2017 in die Gesundheitsbranche. Das zeigen gemeinsame Recherchen von BLICK, «Handelszeitung», «Beobachter» und «Le Temps».

Dabei machen die Geldflüsse keinen halt vor der Wissenschaft. Allein im Jahr 2017 wurden klinische Studien mit über 59 Millionen Pharma-Franken finanziert. Und auch abseits davon fliessen Beträge wie im Lehrbuch: Forscher und Institute, auf deren Arbeit Grundlage sich Ärzte fortbilden, Medizinstudenten lernen und sich neue Behandlungsmethoden entwickeln, operieren nicht unabhängig von der Pharmaindustrie.

«Ich weiss, welcher Studie ich glauben kann»

Der Berner SVP-Nationalrat Erich von Siebenthal (60) kritisiert: «Sobald übermässig Geld im Spiel ist – sei es bei Ärzten, Apothekern, Wissenschaftlern oder auch Parlamentariern –, ist man in der Entscheidung nicht mehr frei.»

Die Uni Zürich bekam wie andere Unis in drei Jahren über 2 Millionen Franken von der Pharmaindustrie.
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Insider erzählen BLICK von Entscheidungen, die nicht mehr frei, sondern klar vorgegeben sind. Ihre Arbeitgeber – Pharmafirmen – hätten Vorträge für Professoren auf Kongressen geschrieben. Die Zuhörer hätten davon nichts gewusst. «Mittlerweile weiss ich, welchen Studien und Professoren ich glauben kann und welchen nicht», sagt Patrick Weihs (57), Leitender Arzt in Bern und Mitglied der pharmakritischen Initiative Mezis. Das grösste Problem sei, «wenn gewichtige Fachgesellschaften und führende Wissenschaftler von Pharmafirmen zu stark eingebunden werden».

Wissenschaftler in PR-Text

Die einflussreiche Weiterbildungs-Organisation Excemed liegt 2017 mit rund 4,7 Millionen Pharma-Franken auf Platz zwei aller Empfängerorganisationen in der Schweiz. Das Geld stammt ausschliesslich von der Firma Merck. Einen Exklusivvertrag gäbe es aber nicht, heisst es aber von beiden Seiten..

Pikant: Der deutsche Arzt Robert Fischer, Mitglied des wissenschaftlichen Komitees bei Excemed, wirbt in einem PR-Text von Merck für einen Embryonen-Inkubator. Seine Tätigkeit für Excemed habe aber «nichts mit Merck zu tun», erklärt ein Firmensprecher.

Ebenfalls Zahlungen mit «Gschmäckle» gehen an die Europäische Gesellschaft für Medizinische Onkologie (ESMO). Sie ist weltweit eine der Top-Adressen, wenn es um Neuerungen in der Krebsforschung geht – und ein Liebling der Pharmaindustrie. 10,3 Millionen Pharma-Franken flossen 2017 an die Organisation mit Sitz im Tessin. Auf Anfrage beruft sich ESMO trotz der Zahlungen auf «höchste Integritätsstandards».

Nicht alles offengelegt

Die ESMO hat drei wissenschaftliche Journale über Krebs. In deren Redaktionsleitungen sitzen diverse Krebs-Experten, die Pharma-Gelder bekommen. Etwa Matti Aapro, Onkologe in Genolier VD: Er bekam 2017 allein rund 40'000 Franken von der Pharmaindustrie. Auf BLICK-Anfrage reagiert er nicht.

Anders Reinhard Dummer vom Unispital Zürich. Er ist beim ESMO-Journal «ESMO Open» in der Redaktionsleitung zuständig für Hautkrebs. Von Novartis, einem der grossen wichtigen Pharmakonzerne beim Thema Hautkrebs, bekam er knapp 8000 Franken. Dummer erklärt gegenüber BLICK, er sei der Wissenschaft verpflichtet und schliesse aus, dass solche Zahlungen zu einem Bias – also Voreingenommenheit – bei seiner Arbeit führen könnten. Alle Herausgeber der ESMO-Journals geben an, strikte Richtlinien zu haben.

Ein ähnliches Bild bei der Europäischen Atemwegsgesellschaft (ERS) mit rund 35'000 Mitgliedern weltweit. Die Lausanner Organisation bekam 2017 rund 2,8 Millionen Franken von der Pharmaindustrie. Am heutigen Samstag endet ein ERS-Kongress in Marseille, wo Pharmaindustrien Infostände aufstellen können. Kostenpunkt: rund 475 Franken pro Quadratmeter.

In ihrem wichtigsten Wissenschaftsjournal arbeiten drei Mediziner, die von Pharmafirmen drei- oder vierstellige Beträge bekamen und das nicht angeben. Damit konfrontiert, sagt die ERS: Von diesen Mitarbeitern verlange man keine Offenlegung, da sie «nicht als Gesamt-Entscheider» arbeiteten. Gesundheitsökonom Heinz Locher (75) hat überhaupt kein Verständnis: «Dass Mitarbeiter eines wissenschaftlichen Journals Leistungen von der Pharmabranche beziehen, finde ich ein No-Go.»

Das ist das Recherche-Netzwerk

Sehen Sie selbst, welche geldwerten Leistungen die Pharmaindustrie Ärzten, Spitälern und anderen Institutionen der Gesundheitsbranche zukommen liess: Auf www.pharmagelder.ch machen die Schweizer Medien des Ringier Axel Springer Research Network entsprechende Daten zugänglich und für jeden durchsuchbar. Die Daten stammen von 60 Pharmafirmen, die sie gemäss Pharma-Kooperations-Kodex des Verbands Scienceindustries offengelegt haben.

«Pharmagelder Schweiz» ist ein Projekt des Ringier Axel Springer Research Network. Im Netzwerk arbeiten Journalisten verschiedener Medien bei transnationalen, datengetriebenen oder investigativen Projekten zusammen. Teil davon sind: Beobachter, «Blick»-Gruppe, «Handelszeitung» und «Le Temps» (Schweiz), «Welt» und «Bild» (Deutschland), «Pulse» (Nigeria), «Politico» (Belgien), «Onet» (Polen), «Aktuality.sk» (Slowakei), «Libertatea» (Rumänien), «Blic» (Serbien), «Blikk» (Ungarn), «Business Insider» (Vereinigtes Königreich).

Sehen Sie selbst, welche geldwerten Leistungen die Pharmaindustrie Ärzten, Spitälern und anderen Institutionen der Gesundheitsbranche zukommen liess: Auf www.pharmagelder.ch machen die Schweizer Medien des Ringier Axel Springer Research Network entsprechende Daten zugänglich und für jeden durchsuchbar. Die Daten stammen von 60 Pharmafirmen, die sie gemäss Pharma-Kooperations-Kodex des Verbands Scienceindustries offengelegt haben.

«Pharmagelder Schweiz» ist ein Projekt des Ringier Axel Springer Research Network. Im Netzwerk arbeiten Journalisten verschiedener Medien bei transnationalen, datengetriebenen oder investigativen Projekten zusammen. Teil davon sind: Beobachter, «Blick»-Gruppe, «Handelszeitung» und «Le Temps» (Schweiz), «Welt» und «Bild» (Deutschland), «Pulse» (Nigeria), «Politico» (Belgien), «Onet» (Polen), «Aktuality.sk» (Slowakei), «Libertatea» (Rumänien), «Blic» (Serbien), «Blikk» (Ungarn), «Business Insider» (Vereinigtes Königreich).

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Eine Professur von Roche

Doch man muss nicht in die hochelitären Wissenschaftsblätter schauen, um ein mulmiges Gefühl zu bekommen. Eine Mitarbeiterin der Abteilung Wissenschaftliche Medien Schweizerischer Apothekerverband bekam 2017 genau 3000 Franken von Impfstoffhersteller MSD. Sie ist Projektleiterin für Impfen und Impfberatung. Der Verband selbst sieht kein Problem: «Der Sponsor respektiert und unterstützt die wissenschaftliche Unabhängigkeit.»

Auf diese berufen sich auch Schweizer Unis. Die Uni Zürich bekam von 2015 bis 2017 gut 2 Millionen Franken, die Universität Basel 2,1 Millionen Franken. Zusätzlich wird am Rheinknie ein Lehrstuhl für Gesundheitsökonomie mit jährlich 450'000 Franken vom Verband Interpharma ausgestattet. Es gibt auch eine «Roche-Professor für Immunologie».

Sizilienreise auf Pharmakosten

In Bern wird die Professur «Anthroposophisch erweiterte Medizin» unter anderem von der Gesundheits- und Kosmetikfirma Weleda unterstützt. Erst kürzlich machte die Uni der Bundesstadt Schlagzeilen: Pharmafirmen bewarben vor Medizinstudenten gegen Zahlungen ihre Produkte. Die Berner Studis finanzierten sich damit ihre Abschlussfahrt nach Sizilien. Die Universität selbst nimmt Abstand von diesem Fall. Er sei von einem privaten Verein organisiert worden.

Abstand nimmt die Universität aber nicht zur Pharmaindustrie: Von 2015 bis 2017 bekam sie über eine halbe Million Franken von Pharmaunternehmen in Form von Sponsorings, Spenden, Honoraren.

Alle Universitäten geben an, die Lehre werde nicht beeinflusst. Der Konflikt um die Pharma-Gelder ist kein grosses Thema in den Hörsälen, wird im Studienplan nur gestreift. «Medizinstudierende sollen gegenüber Zuwendungen der Pharmaindustrie sensibilisiert werden und sich kritisch mit möglichen Interessenkonflikten auseinandersetzen», fordert Swimsa, der Dachverband der Schweizer Medizinstudierenden. Der Verband selbst wird von der Dienstleistungsorganisation Mediservice gesponsert. Sie gehört zum Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzte. Und der bekam in drei Jahren über 30'000 Franken von Pharmaunternehmen.

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Ist Ihre Lieblingsapotheke von einer Pharmafirma gesponsert? Bekommt Ihr Hausarzt Reisen oder Unterkünfte von Medikamentenherstellern bezahlt? Steht vielleicht das nächstgelegene Spital auf der Empfängerliste von Pharma-Spenden? Finden Sie es auf www.pharmagelder.ch heraus und suchen Sie in der dortigen Suchmaske nach Ihrem Arzt, Apotheker oder Spital.

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