Warum schiessen so viele Schweizer scharf?
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Besuch bei Sportschützen:Warum schiessen so viele Schweizer scharf?

Das Feldschiessen, das grösste Schützenfest der Welt
Darum sind die Schweizer scharf aufs Schiessen

Seit 150 Jahren messen sich Zehntausende Schützen am Eidgenössischen Feldschiessen. Doch wie ist es entstanden und was bedeutet es heute? Geht es wirklich nur um Traditionspflege oder verfolgen die Schützen auch politische Ziele?
Publiziert: 04.09.2021 um 14:41 Uhr
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Aktualisiert: 04.09.2021 um 14:57 Uhr
Viel Betrieb herrscht jeweils im Schützenhaus beim Feldschiessen.
Foto: Thomas Meier
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Martin Rupf

Der Schuss sitzt: Soeben habe ich zum ersten Mal in meinem Leben mit einem Sturmgewehr geschossen und sogar getroffen. Einen von maximal vier Punkten – immerhin. Ein Schütze des Schützenvereins Freienwil AG stellt mir das Visier ein. Mit Erfolg. Die nächsten zwei Treffer sind eine 3. Und schon bin ich, der in seinem Leben noch nie ein Sturmgewehr in den Händen gehalten hat, im Schiessfieber.

Gelingt es mir, gleich bei meinem ersten Feldschiessen das begehrte Kranzabzeichen zu schiessen? Schwitzend liege ich im Schiessstand – mit gespreizten Beinen für mehr Stabilität und atme tief ein. Und aus. Und ein. Es riecht nach Schiesspulver. Langsam visiere ich das Ziel an, ziehe den Abzug bis zum Druckpunkt – und drücke ab. Ich schiele auf die Anzeige vorne rechts. Nur eine 2. Ich versuche mich noch mehr zu konzentrieren. Vergeblich, am Ende resultieren nach 18 Schüssen gerade einmal 47 von möglichen 72 Punkten. Trotzdem stelle ich mit gewissem Erstaunen fest: Das hat durchaus Spass gemacht.

Wo Kameradschaft und die Tradition gepflegt werden

Ich bin nicht der Einzige, der Gefallen findet am Schiessen. Rund 130’000 Schützinnen und Schütze nehmen jährlich am Eidgenössischen Feldschiessen, dem grössten Schützenfest der Welt, teil. Normalerweise findet dieses Ende Mai über das ganze Land verteilt statt. Doch Corona hat auch die 150-jährige Schiesstradition zu Veränderungen gezwungen. Jeder Schützenverein legt heuer fest, wann geschossen wird – in Freienwil war dies im August der Fall.

Bereits zum 35. Mal ist Hansruedi Zoller dabei. Seit 1986 ist der 74-Jährige aktives Mitglied des Schützenvereins. «Als Soldat habe ich nicht besonders gerne geschossen, ich hatte am Anfang Mühe, auf die silhouettenartige Form zu schiessen.» Weil aber der Schützenverein einen Kassier gesucht hat, trat er dem Schützenverein bei und war 27 Jahre in dessen Vorstand. Er bezeichnet sich als nicht sonderlich talentierten Schützen. «Doch darum geht es im Schiessverein auch gar nicht. Es ist schön, die Kameradschaft und das Traditionelle zu pflegen.»


Militärhistoriker: «Feldschützen standen für die Wehrhaftigkeit»

Der Ursprung des Feldschiessens hängt eng mit der Schweizer Armee und dem ebenfalls jährlich durchgeführten obligatorischen Schiessen zusammen. «Das Feldschiessen ist ein Vermächtnis der Feldschützenbewegung, die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr aktiv war», sagt Militärhistoriker Jürg Stüssi-Lauterburg (67). Im Zweiten Weltkrieg wurde das Feldschiessen weiterhin durchgeführt und hat dazu gedient, die Schussfertigkeit der Schweizer und Schweizerinnen aufrechtzuerhalten. «Im Rahmen der Ortswehren verstärkten ab 1940 über 100'000 junge und ältere Schützen die Armee», erklärt der Historiker.

Nahmen Anfang des 20. Jahrhunderts noch 12’000 Schützen am Feldschiessen teil, erreichte die Teilnehmerzahl 1970 mit knapp einer Viertelmillion Teilnehmern ihren Höhepunkt. Doch wie aktuell ist das Motiv der Wehrhaftigkeit heute noch? «Solange auf der Welt Kriege geführt werden, ist für den Kleinstaat die Möglichkeit der Selbstverteidigung die Voraussetzung der Unabhängigkeit», ist Stüssi-Lauterburg überzeugt. «Und wenn über 130'000 Schützen an einem nationalen Sportanlass teilnehmen, beweist das doch eindrücklich, dass das Feldschiessen eindeutig zum immateriellen Kulturgut der Schweiz gehört», sagt Stüssi-Lauterburg.

Besitz von Privatwaffen wird immer salonfähiger

Auch der Historiker Jo Lang (67), langjähriger Nationalrat (Grüne) und seit den 80er-Jahren Aktivist bei der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA), anerkennt die Bedeutung der Schweizer Schiesstradition. «Ich selber war als 14-Jähriger der jüngste Präsident in der Geschichte des Flobertschützenvereins Aristau.» Er habe jedoch Mühe, dass sich die Schützenlobby immer vehement gegen Verschärfungen des Waffengesetzes gewehrt habe. «Nur ein Beispiel: Seit die Zahl der Ordonnanzwaffen in den Privathaushalten stark zurückgegangen ist und auch keine Munition mehr nach Hause gegeben wird, nahm die Zahl von Suiziden junger Männer stark ab.»

Zum Thema wurde die Verschärfung des Waffengesetzes nicht zuletzt nach dem Amoklauf im Zuger Kantonsrat im Herbst 2001, bei dem 14 Menschen getötet wurden. Jo Lang hatte das Attentat als Kantonsrat hautnah miterlebt. «Der Täter hat 91 Schüsse abgegeben und dafür zweimal das Magazin gewechselt. Hätten im Magazin nur 10 statt 30 Patronen Platz gehabt, hätte er es achtmal wechseln müssen, was die Chance erhöht hätte, den Schützen zu überwältigen.»

Die Waffenlobby verliere aber langsam an Einfluss, was sich vor zwei Jahren gezeigt habe, als die EU-Waffenrichtlinie mit 64 Prozent angenommen wurde. Eine ganz andere Entwicklung bereitet Jo Lang aber Sorge: «Anders als in den USA galt in der Schweiz lange der Konsens, dass Waffen nur im Rahmen des Gemeinwesens eingesetzt werden.» Doch er stellt eine Erosion dieser Kultur fest, was nicht zuletzt die massive Zunahme privater Waffenkäufe zeigt. «Der Waffeneinsatz zur Selbstverteidigung wird immer salonfähiger. Hier wünschte ich mir etwas mehr Achtsamkeit der Schützenvereine.»

Von wegen Altherren-Club

Das Feldschiessen in Freienwil ist schnell absolviert. 18 Schüsse sind in unterschiedlicher Kadenz abzufeuern. Geschossen wird mit dem Sturmgewehr der Schweizer Armee. Die Schussdistanz beträgt 300 Meter. Wer 57 Punkte oder mehr schiesst, holt sich das begehrte Kranzabzeichen. Fast alle Schützinnen und Schützen verbringen vor oder nach dem Schiessen Zeit im eigens für das Schiessen aufgestellten Festzelt. Bei Bier und Bratwurst wird gefachsimpelt und in Erinnerungen an vergangene Schiessen geschwelgt.

Die meisten Anwesenden sind ältere Männer, aber es gibt auch junge Schützinnen wie Céline Lenz. Die 24-Jährige ist eine von drei lizenzierten Frauen im Freienwiler Schützenverein. «Mich fasziniert, dass es keinen Gegner gibt – ausser dir selbst. Es kommt nur auf dich an.» Ihr sei klar, dass der Schiesssport polarisieren kann, so Lenz. Umso wichtiger sei es, den Nachwuchs zu fördern und den Jungen zu zeigen, «wie faszinierend unser Sport ist».

Ein Ziel, das auch Luca Filippini (53), Präsident des Schweizer Schiesssportverbands, hat. «Jährlich absolvieren rund 9000 Jungschützinnen und Jungschützen unsere Ausbildung, das ist sehr erfreulich.» Und natürlich würden auch Erfolgsmeldungen wie zum Beispiel die beiden Olympiamedaillen diesen Sommer in Tokio der Schützin Nina Christen (27) helfen, den Schiesssport ins Rampenlicht zu rücken. Doch die grosse Herausforderung sei es, die jungen Mitglieder in die Vereine zu integrieren.

Präsident steht bei Schusswaffen-Verbrechen im Scheinwerferlicht

Vor vier Jahren hat Filippini das Amt des Präsidenten übernommen. «Schon vor dem Militär habe ich die Freude am Schiessen entdeckt. Und zwar nicht die Schussabgabe allein, sondern die ganze Technik und die sichere Handhabung der Waffen.» Ihm ist es als Präsident eines 130’000 Mitglieder zählenden Verbands wichtig, nahe an der Basis zu sein. So absolviert er jedes Jahr das Feldschiessen – auch dieses Jahr wieder mit Kranzresultat, wie er in einem Nebensatz erwähnt.

Dass der Schiesssport und überhaupt die Schiesstradition in der Gesellschaft mit Klischees zu kämpfen haben, damit kann Filippini leben. «Vielleicht sind wir daran nicht ganz unschuldig, weil wir uns nach aussen besser verkaufen könnten.» Womit er Mühe hat: «Dass ich als Präsident des Schiessverbands immer dann Auskunft geben muss, wenn irgendwo ein schlimmes Verbrechen durch eine Schusswaffe begangen wird.» Natürlich machten ihn solche Taten betroffen. Doch ginge oft vergessen, dass solche Verbrechen mit illegal erworbenen Waffen begangen werden. «Gerade wir als Schiessverband sind darum bemüht, jeden, der schiessen will, in Jungschützenkursen oder bei den obligatorischen Übungen sorgfältig auszubilden», betont Filippini.

Schweizer Schiesstradition

Das Eidgenössische Feldschiessen findet jedes Jahr statt. Ebenfalls jedes Jahr wird das obligatorische Bundesprogramm – im Volksmund «Obligatorische» – geschossen. Es dient der Schiessfähigkeit der Armeeangehörigen. Alle fünf Jahre findet zudem das Eidgenössische Schützenfest fest. Dieses Jahr in Luzern (hätte eigentlich 2020 stattfinden sollen).

Ziel anvisieren, Feuer. Hunderttausende Schweizer frönen dem Schiesssport.
Keystone

Das Eidgenössische Feldschiessen findet jedes Jahr statt. Ebenfalls jedes Jahr wird das obligatorische Bundesprogramm – im Volksmund «Obligatorische» – geschossen. Es dient der Schiessfähigkeit der Armeeangehörigen. Alle fünf Jahre findet zudem das Eidgenössische Schützenfest fest. Dieses Jahr in Luzern (hätte eigentlich 2020 stattfinden sollen).

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Das Feldschiessen hängt tatsächlich eng mit dem obligatorischen Schiessen zusammen. Weil aber die Schweizer Armee immer wieder unter Druck kommt, stellt sich die Frage, wie sich das auf die Schweizer Schiesstradition auswirken könnte. «Fakt ist, dass die Armee einmal um die 600’000 Angehörige gezählt hat. Heute sind es noch deren 100’000», so Filippini. Und was, wenn das «Obligatorische» – es gab immer wieder politische Versuche in diese Richtung – abgeschafft würde? Militärhistoriker Jürg Stüssi-Lauterburg: «Das Obligatorische und das Feldschiessen sind in der Tat wie Zwillinge. Das Ende des obligatorischen Schiessens hätte sicher auch negative Auswirkungen auf das Feldschiessen.» Doch das Feldschiessen als immaterielles Kulturgut werde ganz sicher auch in 100 Jahren noch Bestand haben.

Schütze: «Waffennarren und Kriegsverherrlicher sind bei uns fehl am Platz»

Zurück in die Gegenwart: Auch Werner Suter hat dieses Jahr am Freienwiler Feldschiessen teilgenommen. Suter hat den Freienwiler Schützenverein während fast 20 Jahren präsidiert. Vor kurzem hat er seinem Nachfolger einen Verein mit 55 Mitgliedern, davon 30 aktive Schützinnen und Schützen, übergeben. Suter nutzt die Anwesenheit des Reporters, um gleich mit ein paar Vorurteilen aufzuräumen. «Waffennarren und Kriegsverherrlicher sind im Schützenverein ganz bestimmt fehl am Platz.» Ansonsten sind alle herzlich willkommen. «Selbst solche, die noch gar nicht schiessen können, und sogar Ausländer», sagt er mit einem Lachen und zeigt auf Detlef Philipp. Der gebürtige «Ossi» hat sich vor acht Jahren dem Schützenverein angeschlossen.

Auf die abschliessende Frage an den 74-jährigen Veteranen Hansruedi Zoller, wie lange er denn noch schiessen wolle, antwortet dieser mit einem Schmunzeln: «Solange ich gesund bleibe und noch genügend sehe, um die Scheibe zu treffen.» Er zielt. Und drückt ab.

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