Schulkinder lernen zu zweifeln
Neues Schulfach unterrichtet Fake News

Mit der Einführung des Lehrplans 21 bekommen Schweizer Kinder ein neues Schulfach. Es soll ihnen beibringen, sich im Internet zurechtzufinden und Wahrheit von Lüge zu unterscheiden.
Publiziert: 13.08.2018 um 07:19 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 07:59 Uhr
Simona Boscardin

Eine Schulklasse aus Ennetbürgen im Kanton Nidwalden gehört zu den ersten, die im Fach Medien und Informatik unterrichtet werden. Das durch den Lehrplan 21 neu eingeführte Fach soll Schweizer Kindern beibringen, sich im Inter­net zurechtzufinden. Dazu gehört auch die Fähigkeit, Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden.

Zwar könnte man meinen, dass die Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, sich am besten damit auskennt. Eine Studie der Stanford Graduate School of Education zeigt jedoch das Gegenteil. Die befragten Schüler hatten nicht nur Probleme damit, Nachrichten und als Nachricht getarnte Werbung voneinander zu unterscheiden, sie konnten auch nicht sagen, woher eine Information stammt oder ob eine Quelle glaubwürdig ist.

Früher waren diese Kompetenzen nicht so wichtig, wie sie es ­heute sind. Damals informierte man sich in Zeitungen oder im Fernsehen. Information wurde im besten Fall von ausgebildeten Journalisten zusammengetragen, überprüft und verbreitet. Heute braucht es dafür keine Druckerei oder ein hochmodernes Fernsehstudio. Ein Internetzugang reicht, um als Privatperson ein Millionenpublikum zu erreichen.

Laut dem Media-User-Index informieren sich 86% der 18- bis 24-Jährigen in der Schweiz über das Internet. Doch häufiger informiert das Netz sie. Algorithmen bestimmen für jeden eine individuelle Infosuppe.
Foto: CHRISTIAN BEUTLER
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Hauptinformationsquelle Internet 

Das Internet veränderte das Medienverhalten in den vergangenen Jahren erheblich. So sinkt die Zahl der Fernsehminuten in allen Altersgruppen kontinuierlich, und auch Tageszeitungen werden immer ­weniger gelesen. Allein in den ­letzten drei Jahren verringerte sich der Anteil der Printleserschaft um 8 Prozent.

Die Printmedien werden von Facebook, Youtube und den Onlineportalen der Tageszeitungen abgelöst. So informieren sich in der Schweiz laut dem Media-Use-Index 86 Prozent der 18- bis 24-Jährigen im Internet. Sie erfahren nicht mehr vor dem Fernseher oder aus Zeitungen, sondern über Social Media oder Push-Nachrichten als Erstes von relevanten News.

Auch die Schülerinnen und Schüler der Nidwaldner Schulklasse informieren sich in erster Linie im Internet. Doch sind sie sich dabei einig, dass sie Artikeln von bekannten Tageszeitungen mehr Vertrauen schenken als Beiträgen in ihren sozialen Medien.

«Wer kann mir den Unterschied zwischen Fake News und einer Zeitungsente erklären?», fragt der Lehrer Sandro Jöri in die Runde. ­Keiner streckt auf. Er fragt bei zwei, drei Schülern nach – doch so richtig wissen tut es niemand. «Fake News sind bewusst ­gestreute Falschinformationen, eine Zeitungsente hingegen ist unbeabsichtigt», erklärt er. Einer der Schüler hält die Hand in die Höhe: «Was hat man denn davon, absichtlich Lügen zu erzählen?»

Je extremer und absurder, desto besser 

Soziale Netzwerke sind dazu ­designt, ihre Nutzer so lange wie möglich auf der Seite zu halten. So sorgen Algorithmen dafür, dass es auf Youtube, Facebook & Co. nie langweilig wird, indem sie darüber entscheiden, welche Neuigkeiten überhaupt zu den Nutzern durchdringen.

Wenn ein Beitrag in kurzer Zeit von sehr vielen Personen gesehen und geteilt wird, geht der Algorithmus automatisch davon aus, dass der Inhalt unterhaltend sein muss. Dementsprechend wird er noch mehr Personen angezeigt. Für Inhalte bedeutet das vor allem eines: je extremer und absurder, desto besser. Doch dieser Algorithmus dient insbesondere Fake News. Denn ob wahr oder falsch, ist nebensächlich.

Die Nachrichtenplattform BuzzFeed News sammelte letztes Jahr die erfolgreichsten Falschmeldungen Deutschlands. Dabei erreichten die News über eine Studie, ­wonach ungeimpfte Kinder weniger krank werden, auf Facebook mehr Personen als jeder Artikel des «Spiegels», der «Zeit» oder der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Ebenso erfolgreich waren Berichte über eine Tattoosteuer, menschliches Fleisch bei Mc­Donald’s oder kostenlose Fahrausweise für Flüchtlinge. Erstaunlich ist die hohe Überzeugungskraft ­solcher Nachrichten. Eine amerikanische Studie zeigte kürzlich, dass 75 Prozent der Befragten Fake News als glaubhaft einschätzen.

In Ennetbürgen versuchen die Schüler gerade, mit ­Photoshop bearbeitete Bilder von Originalen zu unterscheiden.«Das stimmt!», sagt ein Schüler zu einem Foto. Darauf sieht man Donald Trump an der ­Seite seiner Eltern, die Uniform des ­Ku-Klux-Klans tragend. «Bist du dir ­dabei ganz sicher?», fragt Sandro Jöri zurück. «Es könnte auch eine Foto­montage sein», sagt er zögerlich und zuckt dabei mit den Schultern. Das sei ­bestimmt nicht echt, mischt sich eine Schülerin in die Diskussion ein. «Der würde sich doch niemals so in der Öffentlichkeit zeigen.» Die Klasse ist sich unsicher, Jöri löst auf. Das Foto ist ein Fake.

Der Schulklasse wird folgendes Bild gezeigt. Ist es nun wahr oder eine Fotomontage? Wirklich sicher sind sich die Schüler darüber nicht.
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Die bewusst gestreuten Falsch­informationen beeinflussen die politi­sche Meinungsbildung. So sind sich politische Beobachter weitgehend einig, dass Donald Trump ohne soziale Medien heute nicht im Weissen Haus sässe.

Doch nicht nur Falschmeldungen können eine ­Bevölkerung politisch spalten. ­Während des amerikanischen Wahlkampfs 2016 fand Facebook Zehntausende Beiträge zu kontroversen Themen wie Waffengesetzen, Schwulenrechten oder Polizeigewalt gegen Schwarze auf seiner Website. Allein diese Beiträge wurden 126 Millionen Nutzern angezeigt, was mehr als die Hälfte der wahlberechtigten amerikanischen Bevölkerung ist.

Das ändert sich im neuen Schuljahr

Nach den Sommerferien führen viele  Kantone den umstrittenen Lehrplan 21 für die Volksschule ein. Bald lernen alle Deutschschweizer Kinder das Gleiche – oder doch nicht? Der Erziehungswissenschaftler Beat Schwendimann erklärt.

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Auch der Kanton Aargau kann den Lehrplan 21 einführen. Konservative Gegner des Lehrplans fuhren mit ihrer Volksinitiative eine Niederlage ein. (Archivbild)
Der neuen Lehrplan 21 soll die Kinder zu mehr Selbständigkeit führen.
KEYSTONE/CHRISTIAN BEUTLER

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Jede Schule wird ein wenig zur Journalistenschule 

Um eine solche Manipulation zu erkennen, brauchen Schüler Me­dienbildung. Das hat neben der Schweiz auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) erkannt. Für die Pisa-Studie, eine interna­tio­nale Befragung, um Schulsysteme weltweit miteinander zu vergleichen, wurde dieses Jahr eine neue Leistung eingeführt. Neben Mathematik, Leseverständnis und Naturwissenschaften wurden die Schüler erstmals auf globale Fertigkeiten hin geprüft – mitunter im Internet zu erkennen, was wahr und was nicht wahr ist.

Laut Sandro Jöri sind ­seine Schüler äusserst kritisch: «Dadurch, dass sie in ihrer Freizeit viel Zeit im Internet verbringen, haben sie ­bereits ein Auge für Falschnachrichten. Dieses muss einfach noch geschult werden.» 

Das Unterrichtsfach Medien und Informatik ist auf eine gewisse Art und Weise auch eine Journalistenschule. Denn die Schüler lernen nicht nur, wie sie richtig konsumieren, sie produzieren auch selbst ­Inhalte. «Schüler schreiben Artikel, nehmen Videos und Hörspiele auf», erklärt Beat Döbeli Honegger. Der 48-Jährige ist Professor am ­Institut Medien und Schule der Päda­gogischen Hochschule Schwyz und für die Ausbildung der Lehrpersonen verantwortlich.

«Wenn man weiss, wieso gewisse Zeitungen ­anders schreiben als andere oder Fernsehbeiträge in verschiedenen Formen daherkommen, fällt man weniger auf Inhalte rein, die man selbst konsumiert», so der ­Gedanke dahinter. 

Das Fach steckt aber noch in den Kinderschuhen und wird in vielen Kantonen teilweise erst im kommenden Schuljahr eingeführt. Ebenso lässt der Lehrplan 21 offen, wie die Schulen das Fach Medien und Informatik umzusetzen haben. So werden Kinder in Zürich und Bern ab der 5. Klasse ein Mal in der Woche in Medienbildung unter­richtet, Schwyz und Luzern hingegen bilden die Schüler in der Primarschule in ­einem schon bestehenden Fach aus.

Ohne informierte Bürger keine Demokratie 

So sollen den Schülern in der Primar­schule vor allem Grund­lagen beigebracht werden, wie die richtige Verwendung einer Suchmaschine. Dazu gehört nicht nur das Üben der Suche selbst, ­sondern auch ein Verständnis dafür zu bekommen, wie eine Suchmaschine funktioniert und weshalb sie je nach Nutzer andere Ergebnisse ausspuckt. 

In der Sekundarschule werden die Themen komplexer. Sie erfahren, dass jede Nachricht mindestens zwei unabhängige Quellen braucht, jede Meinung eine Gegenmeinung. Die Schüler üben mit Fake News umzugehen, werden mit Cyber­mobbing konfrontiert und lernen, ihr Körperbild nicht durch soziale Medien beeinflussen zu lassen. Wie eine Studie der Universität Sydney zeigte, nahmen die Sorgen über das eigene Körpergewicht bereits nach fünf Lektionen Medienbildung ­signifikant ab.

«Fake News zu erkennen, ist gar nicht so schwer, wie es auf den ersten Blick scheint», sagt Sandro Jöri. Dafür sollen die Schüler ­immer als Erstes die Quelle eines Artikels ermitteln und danach die Fakten über­prüfen. Als Letztes sollen die Schüler die Bilder im Text checken. Denn vielleicht finden sie dasselbe Bild in einem völlig anderen Zusammenhang wieder: «Falls ihr eine Information findet, die zu gut scheint, um wahr zu sein, dann ­überprüft sie», sagt er.

Noch nie zuvor hatte die Menschheit so leichten Zugriff zur Information. Die Adresse des Zahnarztes, ein Rezept für das Abendessen oder die Geschichte des Kalten Kriegs – alles kann in Sekunden ­abgefragt werden. Doch es ist wichtig zu ­lernen, wie man mit dieser Fülle an Wissen umzugehen hat. Denn ohne Information keine ­Möglichkeit, sich eine Meinung zu bilden – und ohne Meinung keine Demokratie.

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