Erst verbrannten sie seine Kunst, heute ist sie eine Viertelmillion wert
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Schriftsteller besucht Maler:Lukas Hartmann schrieb einen Roman über Louis Soutter

150. Geburtstag von Louis Soutter
Erst verbrannten sie seine Kunst, heute ist sie eine Viertelmillion wert

Der neue Bestsellerroman von Lukas Hartmann (76) über den Art-brut-Maler Louis Soutter (1871–1942) heisst «Schattentanz». Zum 150. Geburtstag des Künstlers besucht Hartmann mit dem SonntagsBlick Magazin eine Soutter-Ausstellung in Aarau.
Publiziert: 24.05.2021 um 16:45 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2021 um 10:07 Uhr
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann veröffentlichte dieses Frühjahr den Roman «Schattentanz» über den Schweizer Art-brut-Maler Louis Soutter.
Foto: Nathalie Taiana
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Daniel Arnet

Der aktuelle Soutter-Raum im Souterrain des Aargauer Kunsthauses in Aarau: Ein Dutzend Bilder des Schweizer Malers Louis Soutter (1871–1942) hängt zu seinem 150. Geburtstag vom 4. Juni an den Wänden, allesamt aus der 80 Stück umfassenden Museumssammlung mit Werken des Art-brut-Künstlers. Zu sehen sind Tusche-Arbeiten auf Papier in Schwarz-Weiss – wie Schattenwürfe der Besucher in diesem Untergeschoss: beängstigend, bewegt, bewegend.

Keine Ruhe lassen sie dem Schweizer Schriftsteller Lukas Hartmann (76). Er läuft vor sein Lieblingsbild im Raum: «Le fils prodigue» (Der verlorene Sohn) mit dem Entstehungsjahr 1937/42. Hartmann steht vor einem Rätsel: «Was passiert da?», sagt er leicht vor sich hin. «Ist das eine Geliebte? Tritt man ihr zu nahe? Oder fällt sie gleich hin? Hilft man ihr? Wird die Figur in der Mitte gefasst? Wollte die flüchten?» Halb fasziniert, halb resigniert sagt er: «Man muss sich selbst eine Geschichte dazu ausdenken.»

Hartmann dachte sich einen ganzen Roman zu Louis Soutter aus und veröffentlichte ihn dieses Frühjahr unter dem Titel «Schattentanz. Die Wege des Louis Soutter». Das Buch findet reissenden Absatz, ist seither auf der Bestsellerliste. Kein Zufall, denn Hartmann schafft einen Zugang zum Phänomen Soutter. In 33 Kapiteln beschreibt er das Leben des Romands aus verschiedenen Perspektiven: Wir sehen ihn bei der Arbeit im jurassischen Heim, seine fordernde Mutter und der fördernde Cousin Le Corbusier (1887–1965) sprechen direkt zu uns.

Seit fast 20 Jahren fesseln Hartmann Soutters Bilder

«Ich glaube, es war 1927, als ich das erste Mal zu ihm nach Ballaigues fuhr, zu meinem Cousin Louis Soutter.» Mit diesem Satz aus dem Mund des berühmten Architekten Le Corbusier beginnt der Roman. «Er war in Morges am Genfersee aufgewachsen, der Sohn der Schwester meines Vaters, die einen Apotheker geheiratet hatte.» Soutter studierte später Architektur, Musik und Malerei, schloss aber nichts ab. Wegen seines zunehmend vagabundenhaften Lebens entmündigte ihn seine Familie und steckte ihn 1923 ins Altersheim in Ballaigues VD.

In einem zwanghaften, künstlerischen Produktionsdrang erschuf Soutter dort sein heute bekanntes Œuvre. «Nach seinem Wanderleben, in dem er sich fast ruinierte, fing er im Altersheim von einem Tag auf den anderen mit einem ganz anderen Stil an», sagt Hartmann. «Gab es das in der Kunstgeschichte je einmal? Ich weiss es nicht.» Soutter nahm ein Blatt und liess es irgendwie wachsen – vor allem, nachdem er keinen Stift mehr zur Hand nehmen konnte und wegen arthritischer Beschwerden gleich mit den Fingern malte.

«Da merkte er, dass es eine ganz neue Art von Expressivität gibt», sagt Hartmann. Soutter fing jeweils an und wusste nicht, wohin ihn das führte. «Das irritierte seinen Cousin Le Corbusier, der als Architekt immer einen Plan hatte», so der Schriftsteller weiter. Und die Cousins entfremdeten sich weiter: Während Soutter vor dem beginnenden Zweiten Weltkrieg graute, sympathisierte Le Corbusier mit dem Faschismus. «Einige Blätter sind bei mir geblieben», so Le Corbusier am Schluss des Romans. «Es kostet mich zu viel Überwindung, sie anzuschauen, sie verfolgen mich bis in meine Träume.»

Hartmann schaut auf ein anderes Werk in Aarau: «Notre mère» (1937/42). «Auch da die schwebende Figur: Was wollte er damit?», fragt er. «Die Bilder lassen mich wegen ihrer Vieldeutigkeit nicht los.» Seit fast 20 Jahren fesseln sie ihn: 2002 besuchte Hartmann die grosse Retrospektive «Louis Soutter et les modernes» im Kunstmuseum Basel, wo 110 Bleistift- und Federzeichnungen sowie 90 Fingermalereien zu sehen waren. Eine Sensation, die Soutter in den Rang eines grossen Schweizer Künstlers des 20. Jahrhunderts erhob.

«Er war völlig nackt, er malte an einem Blatt mit seinen Figuren»

Das sah man zu Lebzeiten des Malers freilich anders. «Im Heim brauchte man die Blätter als Anfeuerungsmaterial und verbrannte die Werke», sagt Hartmann. «Dort konnte man nichts damit anfangen.» Rund 3000 Blätter blieben erhalten, geschätzt ein Viertel des von Soutter manisch geschaffenen Œuvres. «Es kam auch vor, dass ihm andere Insassen Blätter stahlen, um dafür ein bisschen Geld zu bekommen: 20, 30 Rappen», sagt Hartmann. Heute erzielen die Tuschearbeiten an Auktionen hohe sechsstellige Frankensummen.

«Soutter hatte immer Mühe, genügend Papier fürs Malen zu bekommen», sagt Hartmann. Le Corbusier brachte ihm grossflächige Bögen vorbei, die Soutter auf der Vorder- und Rückseite bemalte. Zur Not bepinselte er auch Rückseiten von Kalenderblättern. «Er arbeitete fortlaufend – das nächste, das nächste!», so Hartmann. Nur wenn ihn Künstler besuchten, erlaubt er, etwas Fertiges umzudrehen. «Wenn er Besuch bekam, der sich auf seine Werke einliess, dann gab er auf seine Art Auskunft», sagt der Romanautor. «Die, welche nur entsetzt waren, schickte er gleich weg.»

Selbst Le Corbusier war zuweilen entsetzt. «Ich trat vorsichtig über die hohe Schwelle», beschreibt Hartmann im Buch einen Besuch beim Cousin. «Mein Erschrecken brachte mich beinahe aus dem Gleichgewicht, nein, es war stärker als Erschrecken, ich war für Momente wie gelähmt. Da kauerte er auf dem Bretterboden, mein Cousin, rings um sich grosse Zeichnungsblätter, die ich ihm bezahlt hatte, er war völlig nackt, er malte an einem Blatt mit seinen Figuren, er tauchte die malenden Finger in eines der Gefässe mit schwarzer Tinte oder Tusche, die Finger beider Hände glitten beinahe elegant übers Blatt.»

Um auf solch starke Sätze zu kommen, recherchierte Hartmann viel und setzte ein ganzes Arbeitsjahr ein. Routinearbeit für Hartmann, denn er ist ein ausgewiesener Fachmann für historische Romane: 1999 veröffentlichte er «Die Frau im Pelz» über die Schweizer Gestapo-Agentin Carmen Mory (1905–1947), 2009 erschien «Bis ans Ende der Meere» über den englisch-schweizerischen Maler John Webber (1751–1793), der an James Cooks dritter und letzter Südseereise von 1776 teilnahm. Dafür bekam Hartmann 2010 die Goldene Lorbeere des Sir-Walter-Scott-Preises.

Eine Trilogie über 1942 verstorbene Berühmtheiten

Und 2019 folgte «Der Sänger», ein historischer Roman über den jüdischen Startenor Joseph Schmidt (1904–1942), der in einem Internierungslager in der Schweiz starb. «Der Sänger» und «Schattentanz» sind zwei Teile einer Trilogie über im Jahr 1942 verstorbene Berühmtheiten. 2023 will Hartmann den dritten Teil folgen lassen, einen Roman über die Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (1885–1942) und den Kommunisten Fritz Platten (1883–1942). «Spielrein wollte die Welt erlösen, indem sich jeder Einzelne verändert», sagt Hartmann, «und Platten wollte die Gesellschaft als Ganzes verändern.»

Gleiches Todesjahr, unterschiedliche Lebensläufe: «Die Verschiedenartigkeit der Schicksale interessiert mich», sagt Hartmann. Der Sänger musste aus Nazideutschland flüchten, der Maler trat eine Flucht ins Innere an, und im dritten Teil folgen zwei gegensätzliche Figuren, die aus der Schweiz weggingen. Hartmann: «Spielrein ging in ihr Geburtsland Russland zurück, und der Schweizer Platten ging als Kommunist dorthin – und landete in einem Lager Stalins.»

Hartmann arbeitet sich in all seine Figuren ein, doch bei Louis Soutter ist es eine gewisse Seelenverwandtschaft. «Ich spielte Geige wie Soutter», sagt er, «das ergab eine Art Gleichklang.» Zudem beschäftigte sich Hartmann mit holländischen Gemälden, seit er zwölf Jahre alt war: «Ich wollte unbedingt Künstler werden.» Doch bei Musik und Malerei merkte Hartmann, dass es nicht reicht. So erwählte er den Beruf des Schriftstellers – gegen den Willen des Vaters, weshalb der gebürtige Hans-Rudolf Lehmann später das Pseudonym Lukas Hartmann wählte. Kämpfte Hartmann gegen die Vorstellungen des Vaters, war es bei Soutter der Widerstand gegen die fordernde Mutter.

Trotz dieser Dringlichkeit wäre «Schattentanz» beinahe nicht erschienen, weil der Westschweizer Autor Michel Layaz (57) 2016 den Roman «Louis Soutter, probablement» herausgab. «Da dachte ich, ich könne das Buch nicht publizieren, sonst gelte ich noch als Nachahmer», sagt Hartmann. Er tat es zum Glück trotzdem, denn die beiden Bücher sind sehr verschieden: Während Layaz streng chronologisch vorgeht, den Kapiteln sogar Jahreszahlen aus Soutters Leben gibt, macht Hartmann Zeitsprünge und Perspektivenwechsel – ein lebendiger «Schattentanz» eben.

Die Ausstellung mit Soutter-Bildern im Aargauer Kunsthaus in Aarau dauert noch bis 17. Oktober 2021

Der Roman «Schattentanz» ist im Diogenes-Verlag erschienen

Am 16. Juni um 19 Uhr liest Lukas Hartmann im Aargauer Kunsthaus aus dem Buch; Anmeldung: www.aargauerkunsthaus.ch/veranstaltungen

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