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4 Sekunden pro Picasso – wegen Instagram & Co
Museen bieten Kurse in «Slow Looking» an

Das Smartphone macht uns immer rastloser, auch im Museum. Soll man Besucher mit Slow Looking zu längerer Verweildauer erziehen? Experten sind sich uneinig.
Publiziert: 16.02.2019 um 13:54 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 10:55 Uhr
Vier Sekunden verweilen Kunstbetrachter heute durchschnittlich vor einem Gemälde, so schätzt das deutsche Kunstmagazin «Monopol»: Besucher der aktuellen Picasso-Ausstellung in der Fondation Beyeler.
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Fünf Minuten – so lange schaut sich ein Besucher durchschnittlich die 75 Picassos in der Fondation 
Beyeler in Riehen BS an, vier Sekunden pro Gemälde. Von dieser Verweildauer vor Ausstellungsobjekten geht jedenfalls das Kunstmagazin «Monopol» in einem unlängst veröffentlichten Artikel aus.

Rechnet man die sechs Minuten dazu, die man für den gut 300 
Meter langen Rundgang durch die Fondation braucht, die Zeit für die Positionierung mit freier Sicht aufs Werk und die Momente für leise Gespräche mit der Begleitung, dann ist man nach spätestens 20 bis 30 Minuten durch.

Museumsbesuch als Schnelllauf, Kunstgenuss als Leistungssport. Menschen scheinen in Ausstellungen Rekordzeiten unterbieten zu wollen: Eine Studie von der Zeppelin-Universität in Friedrichshafen (D) aus dem Jahr 2012 ergab noch eine durchschnittliche Verweildauer von elf Sekunden vor einem Bild. Und nun geht man also von geschätzten vier Sekunden aus.

Arno Stein, Direktor des Museums Franz Gertsch in Burgdorf BE, ist überzeugt, dass uns das Smart­phone hektischer und rastloser macht. «Heute wischen wir uns im Sekundentakt durch die Bilderflut auf Instagram, Snapchat und Facebook», sagt er. «Dieses Verhalten wirkt sich sicher auch auf den Umgang mit Bildern in Museen aus.»

Dieser Entwicklung versucht jetzt die Tate Moderne in London etwas entgegenzusetzen: Für 
die aktuelle Ausstellung «The Colour of Memory» über den französischen Maler Pierre Bonnard (1867–1947) bietet das Museum eine sogenannte «Slow Looking Tour» an – ein geführter Rundgang, bei dem die Teilnehmer nur zwei, drei Werke betrachten, dafür intensiver.

Picasso-Gemälde erschliesst sich einem nicht in vier Sekunden

«Bonnards Gemälde belohnen eine lange und sehr genaue Betrachtung», sagt Matthew Gale, ­Kurator der Ausstellung in der Tate Modern, dem «Guardian». So brauche es immer eine gewisse Zeit, bis Betrachter auf dem Ölgemälde «L’Atelier au mimosa» (1939/1946) den Kopf unten links erkennen.

Das Geheimnis des Tableaus «Nu assis (Madeleine)» (1905) in der Riehener Picasso-Ausstellung erschliesst sich einem auch nicht in vier Sekunden: Dort ist die sitzende Figur neckisch nochmals ganz klein und schemenhaft in der dunklen Ecke oben links wiederholt – als wäre es ein Gedanke der melancholisch versunkenen Madeleine.

Slow Looking gehört wie Slow Living oder Slow Food zu den Bewegungen, welche die hektischen Menschen des digitalen Zeitalters entschleunigen und zu nachhaltiger Lebensweise bringen wollen. Stammen der Roman «Die Entdeckung der Langsamkeit» von Sten Nadolny (76) und die Slow-Food-Bewegung aus den 1980er-Jahren, so ist die theoretische Grundlage von Slow Looking jüngeren Datums.

2017 veröffentlichte die Harvard-Dozentin Shari Tishman ihr Buch «Slow Looking», in dem sie die eingehende Betrachtung in jeder Lebenslage als Grundlage für kritisches Denken und ­wissenschaftliche Forschung bezeichnet. In Kapitel fünf ruft sie Museumsbesucher explizit dazu auf, ihre Verweildauer vor Ausstellungsobjekten zu verlängern.

Davon hält Roger Fayet, Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK), nicht viel: «Bloss nicht! Wir schulden dem Werk nichts, jedenfalls nicht als Betrachter.» Beim Anschauen von Kunstwerken gehe es um das, was im Kopf des Betrachters entstehe. «Aber das funktioniert nur, wenn der Museumsbesucher etwas will vom Bild; tut er das nicht, macht es keinen Sinn, ihn dazu zu zwingen.»

«Slow Looking kann noch mehr Hemmschwellen erzeugen»

Zwang ist auch für Nina Zimmer, Direktorin des Kunstmuseums Bern und Leiterin des Zentrums Paul Klee, kein probates Mittel. «Die Freiheit, sich die Zeit mit der Kunst selbst einzuteilen, ist eine der grossen Stärken des Formats Museum», sagt sie. Und ­Karen N. Gerig vom Kunstmuseum Basel ist sogar der Ansicht, Slow Looking könne kontraproduktiv sein: «Möglicherweise erzeugt es noch mehr Hemmschwellen, weil die Besucher denken, sie sehen nicht das, was sie sehen sollten.»

Was das konkret heisst, verdeutlicht 
Björn Quellenberg vom Kunsthaus Zürich. «Ein Werk kann einen Betrachter binnen Sekunden begeistern», sagt er, «und ein anderer findet auch nach mehreren Minuten keinen Zugang – weder emotional noch intellektuell.» Langsam sei nicht gleich gut oder schnell nicht gleich schlecht. Kurzführungen wie am Tag der ­offenen Tür vom 2. März und pri­vate Speed-Touren stünden aktuell hoch in der Gunst des Publikums.

Hopp, hopp! Schliesslich gibt es in der Schweizer Museumslandschaft einiges zu sehen: Gemäss den ak­tuellsten Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen schweizweit 1111 Museen in ihren Sammlungen und 1559 Wechselausstellungen an durchschnittlich 143 Öffnungstagen pro Jahr 13,5 Mil
lionen Besuchern 71,3 Millionen ­Objekte. Uff! Da kommt man nur schon beim Lesen ausser Atem.

Kein Zufall, erhob Kulturwissenschaftler Martin Tröndle von der Zeppelin-Universität sein Ergebnis von durchschnittlich bloss elf Sekunden Kunstbetrachtung 2012 in der Schweiz, nämlich bei 500 Besuchern im Kunstmuseum St. Gallen. «Die Zeit» schrieb darauf: «Wenn Tröndle mit seinem Befunden recht hat – und alles spricht dafür –, dann müssen die Museen kleiner, ruhiger und leerer werden.»

Freiwillig reduzieren? Nein danke! Lieber treiben die Museen ihre Besucher mit riesigen Erweiterungsbauten zu wahren Marathonläufern an – so geschehen in Basel beim Kunstmuseum und in Zürich beim Landesmuseum und demnächst beim Kunsthaus. Denn mehr Platz bedeutet mehr Objekte, die mehr Besucher anziehen und Mehr-einnahmen generieren.

Langes Anschauen kann zu Krise führen 

Dass auch weniger mehr sein kann, zeigt ein Beispiel aus dem kleinen, aber feinen Museum Franz Gertsch in Burgdorf: 2017 veranstaltete man dort eine Ausstellung zum 
40. Todestag des Schweizer Malers Varlin (1900–1977). Mangels Platz und Geld gab es nur 35, dafür exquisite Werke zu sehen.

Arno Stein machte einen Rundgang mit einer Sammlerin, die ihren Varlin auch für die grosse Retrospektive vor 19 Jahren in Aarau auslieh, wo 125 Werke zu sehen waren. Stein erinnert sich an ihre Worte: «Diese Ausstellung bei uns sei viel spannender, weil man nicht überflutet werde und sich mehr Zeit für einzelne Arbeiten nehme.»

Mehr Zeit für einzelne Arbeiten: Das bieten mehrere Schweizer Museen. Solche Veranstaltungen heissen nicht «Slow Looking Tour», sondern «Kunst am Mittag» wie im Bündner Kunstmuseum von Chur oder «Begegnung mit dem Original» wie im Kunstmuseum Luzern. Dort nimmt man sich einmal im Monat eine Stunde Zeit für nur ein Werk. «Wir haben einen richtigen Fanklub, Menschen, die immer wieder genau zu dieser Veranstaltung kommen», sagt Eveline Suter vom Kunstmuseum Luzern.

Mehr Zeit nehmen sich auch 
Besucher bei der temporären Picasso-Ausstellung, davon ist jedenfalls Roger Fayet vom SIK überzeugt: «Ich bin sicher, bei einer Sonderausstellung betrachten Museumsbesucher Kunstwerke durchschnittlich länger als in einer 
permanenten Sammlungsausstellung.» Tatsächlich zeigt ein Augenschein in der Fondation Beyeler, dass die Menschen die Kunst ausgiebiger geniessen wollen. Und das authentisch für die Schau eingerichtete Café Parisien im Untergeschoss verlängert die Aufenthaltsdauer zusätzlich.

Zum Schluss eine Warnung: Allzu lange Beschau kann schädlich sein – davon weiss Arno Stein zu 
berichten. «Wir hatten jahrelang einen Mann im Haus, der von einem Frauenporträt von Franz Gertsch so ­fasziniert war, dass er stundenlang davor stehen konnte.» Das habe zu einer veritablen Krise geführt – mit seiner realen Ehefrau.

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