Regisseur Felix Bertschin (54) über die Proben für das Stück
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«Haben viel Zeit investiert»:Regisseur Felix Bertschin (54) über die Proben für das Stück

Volkstheater in der Schweiz
Bühne frei für das Laientheater!

4000 Vorstellungen pro Jahr mit einer halben Million Menschen hinter und auf den Bühnen und über 600'000 Personen im Publikum: Das Laientheater ist in der Schweiz ein Massenphänomen. Eine Bestandesaufnahme vor dem Volkstheater-Festival in Meiringen.
Publiziert: 12.06.2022 um 11:42 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2023 um 17:25 Uhr
Regisseur Felix Bertschin (l.) bespricht mit Gitarrist Guido Bieri die musikalische Begleitung während der Aufführung.
Foto: STEFAN BOHRER
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Daniel Arnet

In einem Stall in Allschwil BL kommen sechs Personen in den Himmel: der atheistische Dramatiker, die Malerswitwe, die feministische Journalistin Sarah, das Mädchen Ariana, Drogenhändler Robles und Fernsehprediger Hopkins. Ihre grosse Überraschung: Gott ist eine Frau! Alle müssen sie nun fürs Leben im Jenseits lernen – die Flügelpaare hängen an Kleiderhaken.

«Die Erziehung der Engel» heisst das Stück der deutsch-argentinischen Autorin Esther Vilar (86), das der Laientheaterverein Zum Schwarzen Gyger seit 1. Juni in der Allschwiler Mehrzweckhalle Mühlestall zum Besten gibt. Im Verein sind keine professionellen Schauspielerinnen und Schauspieler, aber sie sind mit Leidenschaft dabei. So abgehoben die himmlische Darstellung ist, so bodenständig ist ihre Darbietung.

Die Schauspielerinnen ziehen sich für die Aufführung von «Die Erziehung der Engel» um.
Foto: STEFAN BOHRER

Volkstheater ist in der Schweiz eine richtige Volksbewegung: 27'000 Mitglieder zählt der Zentralverband Schweizer Volkstheater (ZSV), womit er der drittgrösste Laienkulturverband ist – hinter Blasmusikverband und Chorvereinigung, aber vor Trachtenvereinigung und Jodlerverband. Fachleute schätzen, dass landesweit etwa eine halbe Million Menschen hinter und auf Bühnen stehen – mitgezählt sind dabei auch Laienschauspielerinnen und -schauspieler aus Musikgesellschaften, Turnvereinen oder Gesangsgruppen.

Das Volkstheater bietet weit mehr als bloss Bauernschwänke

Reine Laientheatergruppen vereinigt der ZSV über 500. Zusammen mit den rund 200 Gruppen der Fédération suisse des sociétés théâtrales d’amateurs (FSSTA) und den 30 Mitgliedern der Federazione Filodrammatiche della Svizzera Italiana (FFSI) hat das Bundesamt für Kultur (BAK) über 700 Laientheatergruppen erfasst. Im Vor-Corona-Jahr 2019 zeigten allein die Deutschschweizer Gruppen des ZSV mehr als 4000 Vorstellungen, die über 600'000 Zuschauerinnen und Zuschauer anlockten.

Nun gehts wieder los: Die Freilichtaufführung «Of de Weiermatt» vom Volkstheater Wauwil LU am 16. Juni, «De Stumpf im Sumpf» von der Theatergruppe im Hof in Bubikon ZH am 17. Juni oder die Komödie «Erbä ohni sterbä» vom Fabriktheater Schwanden GL am 18. Juni – fast täglich kann man irgendwo in der Schweiz eine Theateraufführung besuchen. Und «Die Erziehung der Engel» vom Theaterverein Zum Schwarze Gyger ist in Allschwil noch bis zum 18. Juni zu sehen.

Zuschauerinnen kaufen ein Ticket für die Aufführung der Theatergruppe «Zum Schwarze Gyger».
Foto: STEFAN BOHRER

«Wie lebenswert wäre das ewige Leben?» heisst der Text von Vilar im Untertitel, den sie vor genau 30 Jahren erstmals als Sachbuch veröffentlichte. Wieso will man ihn jetzt in Allschwil inszenieren und dem Publikum präsentieren? «Die Stückwahlgruppe macht der Regie jeweils drei Vorschläge», sagt Regisseur Felix Bertschin (54). «Da habe ich mich für ‹Die Erziehung der Engel› entschieden, weil es mit der Todesthematik auch einen aktuellen Bezug zur Covid-Pandemie hat.»

In der Deutschschweiz sind es im Wesentlichen zwei Theaterverlage, die den Laiengruppen Textmaterial anbieten: der Elgg-Verlag in Bern und der Breuninger-Verlag in Aarau. Ersterer stellt etwa 6300 Stücke zur Verfügung, letzterer hat etwas mehr als 5300 in petto. Die Palette reicht vom klassischen Drama über den Krimi bis zur Satire. «Das Klischee, dass das Volkstheater nur aus Bauernschwänken besteht, ist schon lange überholt», sagt Enrico Maurer (25), Verlagsleiter bei Breuninger.

Kräfte bündeln am Volkstheater-Festival Meiringen

Gut zwei Drittel der jährlich rund tausend ausgeliehenen Theatertexte von Breuninger sind zwar Lachstoff, denn so Maurer: «Die klassische Komödie sorgt nach wie vor für die stärksten Besucherzahlen.» Aber die Entwicklung zeige, dass nicht nur «Komödien in Reinform», sondern ebenso gesellschaftskritische und satirische Komödien mehr und mehr auf den Spielplänen Einzug halten. Von den Eintrittspreisen gehen zehn Prozent an den Breuninger-Verlag, der die Rechte an den Texten verwaltet.

«De Adonis vom Chuehstall», «Eimol New York» und «Rent a Family» heissen die Bestseller bei Breuninger. «Der grosse Tenor des Schweizer Volkstheaters zeichnet sich durch Mundart-Aufführungen aus», sagt Verlagsleiter Maurer. «Deshalb befinden sich neben der erfreulich grossen Zahl an Schweizer Autoren auch viele Dialektbearbeitungen internationaler Autoren in unserem Verlag.» So gibts neben einer Mundartversion des «Hexers» von Edgar Wallace (1875–1932) auch «Polizeifunk 117» von Beat Schlatter (61).

Die Zuschauerraum im Mühlestall von Allschwil BL füllt sich nach und nach.
Foto: STEFAN BOHRER

Der Schweizer Schauspieler präsidiert die Jury des zweiten Volkstheater-Festivals in Meiringen BE, das vom 15. bis 19. Juni über die Bühne geht. Acht aktuelle Theaterproduktionen von Schweizer Laiengruppen wetteifern in verschiedenen Kategorien um eine Goldene Meringue als Hauptpreis (siehe Textkasten). Das Festival will die vielen kleinen Events zu einem grossen Anlass bündeln, wie es ihn alle paar Jahre für die Fête des Vignerons in Vevey VD oder das Einsiedler Welttheater gibt.

Goldene Meringue aus Meiringen

Acht aktuelle Produktionen messen sich vom 15. bis 19. Juni beim zweiten Volkstheater-Festival in Meiringen BE und wetteifern um eine Goldene Meringue in Kategorien wie Beste Schauspielerin, Beste Inszenierung, Beste Regie. Zur Jury unter dem Präsidium von Beat Schlatter gehört Blick-Kulturredaktor Daniel Arnet. Die Vorstellungen sind öffentlich und finden von Mittwoch bis Samstag jeweils um 14 Uhr und 20 Uhr statt. Am Sonntag um 14 Uhr ist die Preisverleihung.

Zu sehen sind in chronologischer Reihenfolge: «Runter zum Fluss» von der Zweierkiste aus Volketswil ZH, «Tee, Zitrone oder ohne?» von Die Schatulle aus Greifensee ZH, «Kunst» vom Theater StuckaTOUR aus Zürich, «Der Kuss der Spinnenfrau» vom Theater nota bene aus Bern, «Farm der Tiere» von der Zytglogge Theater-Gesellschaft Bern, «Central Park West» von Die Dramateure Zürich, «Verdingbueb» vom Theater Toffen BE und «Traumhochziit» vom Theaterverein Worben BE.

Für das Publikum bietet das Festival zudem ein breites Kursangebot (vormittags) sowie ein Theaterdorf mit Festzelt und reichhaltigem kulinarischem Angebot (nachmittags und abends).

www.volkstheaterfestival.ch

Acht aktuelle Produktionen messen sich vom 15. bis 19. Juni beim zweiten Volkstheater-Festival in Meiringen BE und wetteifern um eine Goldene Meringue in Kategorien wie Beste Schauspielerin, Beste Inszenierung, Beste Regie. Zur Jury unter dem Präsidium von Beat Schlatter gehört Blick-Kulturredaktor Daniel Arnet. Die Vorstellungen sind öffentlich und finden von Mittwoch bis Samstag jeweils um 14 Uhr und 20 Uhr statt. Am Sonntag um 14 Uhr ist die Preisverleihung.

Zu sehen sind in chronologischer Reihenfolge: «Runter zum Fluss» von der Zweierkiste aus Volketswil ZH, «Tee, Zitrone oder ohne?» von Die Schatulle aus Greifensee ZH, «Kunst» vom Theater StuckaTOUR aus Zürich, «Der Kuss der Spinnenfrau» vom Theater nota bene aus Bern, «Farm der Tiere» von der Zytglogge Theater-Gesellschaft Bern, «Central Park West» von Die Dramateure Zürich, «Verdingbueb» vom Theater Toffen BE und «Traumhochziit» vom Theaterverein Worben BE.

Für das Publikum bietet das Festival zudem ein breites Kursangebot (vormittags) sowie ein Theaterdorf mit Festzelt und reichhaltigem kulinarischem Angebot (nachmittags und abends).

www.volkstheaterfestival.ch

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«Einsiedeln ist theaterverrückt!», schreibt Schriftsteller Thomas Hürlimann (71) im Buch «Volkstheater», das die Amateurszene in der Schweiz und dem Fürstentum Liechtenstein um die Jahrtausendwende erstmals würdigte. Hürlimann brachte das «Welttheater» 2000 und 2007 mit Laiendarstellern aus der ganzen Bevölkerung auf dem Klosterplatz von Einsiedeln SZ zur Aufführung. Hürlimann: «Erste Zeugnisse dramatischer Aufführungen, noch in der Hülle liturgischer Feiern, stammen aus dem 12. Jahrhundert.»

Mit der Commedia dell'arte kam das Berufstheater

Vor allem im ländlichen Gebiet sind die Wurzeln des Laientheaters tatsächlich in geistlichen Spielen des Mittelalters zu finden. Erst in der Renaissance entwickelt sich mit den Schauspielern der Commedia dell'arte das Berufstheater. Die französische Klassik treibt die Professionalisierung zusätzlich voran. Und die Nationaltheater im 19. Jahrhundert mit ihren festen Ensembles machen den Laiengruppen ihre beherrschende Stellung in bürgerlichen Theaterzirkeln streitig.

Der Tod des Volkstheaters? Mitnichten, denn auch das entwickelt sich weiter. «Die Szene hat sich in den letzten Jahren enorm professionalisiert», sagt Maurer vom Breuninger-Theaterverlag. «Viele Amateur-Produktionen stehen Profi-Produktionen, die in privaten Theatern und staatlichen Häusern stattfinden, qualitativ in nichts mehr nach und unterscheiden sich lediglich beim finanziellen Budget voneinander.» Manche Gruppe setze zudem seit Jahren auf eine professionelle Regie.

Die Empfangsengel Julia Saxer und Andrea Pauli halten Flügelpaare für die Neuankömmlinge parat.
Foto: STEFAN BOHRER

Ein langjähriger Profi ist Barbara Schlumpf (60), die schon 1987 Regie-Assistentin fürs «Grosse Welttheater» in Einsiedeln war und seither Dutzende von Produktionen auf die Bühnen brachte. 1991 sorgt sie mit der Regie bei der Uraufführung von Hürlimanns «Der Franzos im Ybrig» zusammen mit der Einsiedler Volkstheatergruppe Chärnehus für einen ersten Meilenstein. «Dialektliteratur vom Feinsten, Dramaturgie von Hürlimann in Shakespeare-Qualität», sagt Schlumpf, «bis heute eine Sternstunde.»

Der Theaterverein Zum Schwarzen Gyger, der 1998 mit einer Inszenierung von Hürlimanns «Güdelmäntig» begann, leistet sich mit Bertschin ebenfalls einen Regie-Profi. Der Lehrer und Schauspieler hat an der Fachhochschule Nordwestschweiz eine Professur und ist Dozent für Auftrittskompetenz sowie Theaterpädagogik. Als Teil des professionellen Produktionsteams bekommt er wie etwa der Beleuchter eine kleine Entlöhnung.

Mehr Frauen als Männer im Laientheater

Anders als die Laiendarstellerinnen und -darsteller – die arbeiten gratis, für sie ist der Bühnenauftritt eine reine Hobbyveranstaltung. «Sie haben den Berufsalltag im Nacken, wenn sie zur Probe kommen, den realen Alltag mit all seinen Erfahrungen und Strapazen, und wenden diese Kenntnisse unmittelbar an», sagt Regisseurin Schlumpf aus Erfahrung. Bis die Rolle wie eine zweite Haut auf den Spielenden wohne, sei es ein langes Zusammenwachsen – diese Verbindung sei letztlich auch ein Vorteil.

«Ich finde am Theaterspielen toll, wie sich nach und nach eine Welt aufbaut», sagt Milena Zobrist (24), die in «Die Erziehung der Engel» das Mädchen spielt. Und Natascha Hort (29) sagt: «Ich finde es sensationell, wie ein kleines Team so etwas Grossartiges auf die Bühne bringen kann.» Sie spielt die männliche Rolle des Drogenhändlers Robles, denn wie in vielen Amateur-Theatertruppen hat es auch beim Schwarzen Gyger mehr Frauen als Männer.

Und zu aller Überraschung ist Gott im Stück von Esther Vilar eine Frau, gespielt von Bri Jost.

Selbst wenn der eine Mann und die acht Frauen aus purer Freude am Spiel auf der Bühne stehen, der Weg dorthin ist kein Zuckerschlecken. Verzögert durch Corona, sind sie seit zwei Jahren dran und stecken seit November 2021 in den Endproben. Das bedeutet ein Treffen pro Woche, seit Ostern gar zwei Mal wöchentlich. Dazu kommen noch drei Probenwochenenden – schliesslich will die seit 24 Jahren bestehende Truppe in der «Basellandschaftlichen Zeitung» wieder gute Kritiken bekommen.

45'000 Franken hat man für die Produktion von «Die Erziehung der Engel» eingesetzt, wovon 25'000 Franken durch Sponsoring bereits abgedeckt sind. Den Rest will man vor allem durch den Billettverkauf reinholen. Ein vergleichsweise geringes Budget, wie Regisseur Bertschin betont. Aber nach der Corona-Pause will man kleinere Brötchen backen. Schliesslich will man nicht finanziell scheitern und dem Titel in Esther Vilars überarbeiteter Neuauflage von «Die Erziehung der Engel» nacheifern – der heisst seit 2009 «Die Schrecken des Paradieses».

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