77-Jährige kämpft gegen ihre Sucht nach Beruhigungsmitteln
«Ohne Pillen ging für mich die Welt unter»

Liselotte I.* (77) bekam von ihrem Arzt Beruhigungsmittel verschrieben und rutschte in eine Sucht. Ihre Geschichte zeigt: Es kann jeden treffen. Auch ohne, dass das Umfeld etwas bemerkt.
Publiziert: 15.11.2020 um 11:57 Uhr
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Aktualisiert: 16.11.2020 um 09:25 Uhr
Anne Grimshaw

Wer Liselotte I.* (77) kennenlernt, trifft auf eine gepflegte, selbstbewusste Frau, die stets einen humorvollen Spruch auf den Lippen hat. Was man ihr nicht ansieht: Seit über vier Jahren ist sie tablettenabhängig. Es ist ein Beruhigungsmittel, von dem sie nicht loskommt. Mit diesem Problem ist sie nicht alleine.

Elf Prozent aller über 70-jährigen Frauen nehmen fast täglich ein Schlaf- oder Beruhigungsmittel. So hoch ist die Zahl bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Der Zugang zu den Medikamenten erfolgt praktisch immer über den Arzt: «Als kurzfristig wirksame Beruhigungsmittel werden diese Medikamente oft verschrieben und sind zu diesem Zweck auch wichtig», erklärt Thilo Beck, Chefarzt für Psychiatrie beim Zentrum für Suchtmedizin Arud. Nimmt man Benzodiazepine, wie die Schlaf- und Beruhigungsmittel genannt werden, über längere Zeit, machen sie aber abhängig.

Tag und Nacht im Stress

Bei Liselotte I. beginnt der Tablettenkonsum, als ihr Ehemann schwer erkrankt. Sie pflegt ihn und kann vor lauter Stress monatelang keine Nacht durchschlafen. Zur Beruhigung verschreibt ihr der Artzt die Pillen. I. nimmt sie ohne Gedanken an eine Suchtgefahr. «Ich hatte gar nie Zeit, gross über meinen Medikamentenkonsum nachzudenken», erinnert sie sich im Gespräch mit BLICK.

Beim Zentrum für Suchtmedizin Arud in Zürich finden Betroffene Hilfe.
Foto: Getty Images
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Nach acht Monaten erliegt ihr Mann seiner Krankheit und die gemeinsame Firma wird aufgelöst. Auch wenn I. ihrer Familie sehr nahe steht, kann ihr die Einsamkeit in dieser Zeit niemand nehmen.

In ihrer Trauer greift sie immer öfter zum Beruhigungsmittel. «Ich nahm bis zu zweieinhalb Tabletten am Tag», stellt sie heute fest. Damit habe sie eine sogenannte Tiefdosisabhängigkeit, erklärt der Experte: «Im Gegensatz zu Hochdosis-Konsumenten, die oft ähnlich wie Betrunkene wirken, ist die Sucht bei Tiefdosis-Konsumenten schwieriger zu erkennen.

Ohne Medikamente geht die Welt unter

Liselotte I. stellt mit der Zeit aber körperliche Folgen fest: «Ich war nicht mehr klar im Kopf und wurde vergesslich». Auch hinters Steuer traut sie sich nicht mehr und beim Treppensteigen muss sie sich immer am Geländer festhalten. Thilo Beck kennt den Grund dafür: «Benzodiazepine entspannen die Muskulatur. Dadurch steigt gerade bei Senioren das Risiko für gefährliche Stürze erheblich».

Nach einiger Zeit wird Liselotte bewusst, dass sie abhängig ist: «Die Welt ging für mich unter, wenn ich die Tabletten nicht nahm». Alleine kämpft sie erfolglos gegen die Sucht an. Der Psychiater rät ihr, in eine Klink zu gehen. «Aber im Kreis sitzen und mit anderen über meine Probleme sprechen - das ist nichts für mich», erklärt sie, «da würde ich mich eingeengt fühlen».

Entzug: Respektvoll und nach Mass

Im Internet stösst Liselotte I. schliesslich auf das Angebot der Arud Zürich, einer Organisation, die Menschen mit Suchtproblemen umfassende Hilfe bietet. Sie meldet sich und wird seither von der Arud begleitet. Dabei wird ihr weder vorgeschrieben, wie ihr Entzug auszusehen hat, noch muss sie das Medikament sofort absetzen.

Das wäre auch unmöglich, erklärt Psychiater Beck: «Setzt man Benzodiazepine zu schnell ab, drohen Entzugssymptome wie Schlafstörungen, Unruhe oder Zittern. Zudem treten die Beschwerden, weswegen man zu Benzodiazepinen gegriffen hat, oft noch stärker auf.» Im Rahmen der Therapie entscheidet man daher selbst, welche Ziele man sich für den geplanten Abbau setzt und wird von Fachpersonen begleitet. Das gefällt I.: «Ich werde sehr respektvoll behandelt, und mir wird kein schlechtes Gewissen eingeimpft.»

Schuldzuweisungen bringen nichts

Liselotte I. geht einmal wöchentlich zur Therapie und kann ihrem normalen Leben nachgehen. Das ist wichtig für sie: «Ich gehe ja nicht hausieren mit meiner Sucht», erklärt sie. Die Angst vor Reaktionen anderer ist auch bei der selbstbewussten Frau gross. Plötzlich eine Süchtige zu sein, ein «Junkie», wie sie es selbst nennt, macht ihr zu schaffen.

«Scham und die Angst, verurteilt zu werden, kann einem jahrelang daran hindern, Hilfe zu suchen», weiss Thilo Beck. Im Umgang mit Menschen mit einem Suchtproblem sei es wichtig, der Person keine Schuld zu geben. Stattdessen hilft Ehrlichkeit: «Hat man einen Verdacht, sollte man das ansprechen, aber keinesfalls wertend. Die Person soll merken, dass man sie unterstützt beim Hilfe suchen, dass sie aber selbst dafür verantwortlich ist.»

Mit sicherem Schritt

Mittlerweile hat I. vier Sitzungen hinter und einen langen Weg vor sich. Das ist ihr bewusst: «Ich weiss nicht mal ganz sicher, ob ich es schaffe, komplett von den Medikamenten wegzukommen.» Dennoch steht für sie fest: «Ich bin ehrgeizig. Ich muss es einfach probieren!» Erste Erfolge sieht sie bereits: «Seit letzter Woche fühle ich mich besser».

Als Liselotte I. nach unserem Treffen aus dem Haus geht, erinnert sie sich an den Regenschirm, den sie Stunden zuvor in einem anderen Raum abgestellt hatte. Sie verlässt das Gebäude über die Treppe. Am Geländer festhalten muss sie sich nicht.

* Name geändert

So erkennen Sie eine Medikamentensucht

Schätzungen zufolge konsumieren bis zu 400'000 Menschen in der Schweiz Schlaf- und Beruhigungsmittel auf problematischen Art und Weise. Folgende Anzeichen weisen auf einen problematischen Konsum hin:

  • Starkes Verlangen nach der Substanz
  • Stetiges Erhöhen der Dosis, damit die Wirkung gleich bleibt, oder gleichbleibende Dosis mit immer weniger Wirkung
  • Wenig bis keine Kontrolle darüber, wann man das Medikament einnimmt
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn das Medikament weniger/nicht genommen wird
  • Vernachlässigung anderer Interessen wegen des Konsums
  • Konsum trotz Bewusstsein über die Probleme, die das Medikament verursacht

Kostenlose Beratung und Hilfe bei Suchtproblemen finden sie bei unter 0800 104 104 (Dienstag bis Donnerstag von 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr). Eine Liste regionaler Hilfestellen finden sie unter www.suchtindex.ch.

Schätzungen zufolge konsumieren bis zu 400'000 Menschen in der Schweiz Schlaf- und Beruhigungsmittel auf problematischen Art und Weise. Folgende Anzeichen weisen auf einen problematischen Konsum hin:

  • Starkes Verlangen nach der Substanz
  • Stetiges Erhöhen der Dosis, damit die Wirkung gleich bleibt, oder gleichbleibende Dosis mit immer weniger Wirkung
  • Wenig bis keine Kontrolle darüber, wann man das Medikament einnimmt
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn das Medikament weniger/nicht genommen wird
  • Vernachlässigung anderer Interessen wegen des Konsums
  • Konsum trotz Bewusstsein über die Probleme, die das Medikament verursacht

Kostenlose Beratung und Hilfe bei Suchtproblemen finden sie bei unter 0800 104 104 (Dienstag bis Donnerstag von 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr). Eine Liste regionaler Hilfestellen finden sie unter www.suchtindex.ch.

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