Entwicklungspsychologin über die zweite Lebenshälfte
«Es ist wichtig, bereits früh die Weichen zu stellen»

Die Lebensphase über 50 sei die beste Zeit des Lebens, sagt Entwicklungspsychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Im Interview verrät sie, was es braucht, um die zweite Lebenshälfte erfüllt und selbstbestimmt in Angriff zu nehmen.
Publiziert: 27.06.2024 um 17:11 Uhr
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Aktualisiert: 04.07.2024 um 09:34 Uhr
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Valentin RubinRedaktor Service

Frau Perrig-Chiello, wir werden immer älter, sehnen uns aber danach, für immer jung zu bleiben. Warum ist das so?
Pasqualina Perrig-Chiello: Das Alter war schon immer mit negativen Erwartungen und Ängsten verbunden. In der heutigen Gesellschaft insbesondere. Dynamik und Flexibilität sind gefragt – Eigenschaften, die nicht mit dem Alter assoziiert werden. Es existieren viele Altersstereotypen: Ältere Menschen sind gebrechlich, leben auf Kosten der Jungen, werden zur Problemgruppe. Dabei stimmen diese Vorurteile zumeist nicht!

Warum nicht?
Die Altersgruppe über 60 ist sehr unterschiedlich. Die jungen Alten, die Babyboomer, sind mehrheitlich fit und leisten viel für Familie und Gesellschaft. Erst im hohen Alter, ab 80, fangen die grösseren gesundheitlichen Einschränkungen an.

Renommierte Entwicklungspsychologin: Pasqualina Perrig-Chiello

Pasqualina Perrig-Chiello (71) war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Uni Bern. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen. Ihr neustes Buch «Own Your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte. Die Psychologie der Lebensübergänge nutzen» ist soeben im Beltz-Verlag erschienen.

Pasqualina Perrig-Chiello (71) war bis zu ihrer Emeritierung Professorin für Entwicklungspsychologie der Lebensspanne an der Uni Bern. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen. Ihr neustes Buch «Own Your Age. Stark und selbstbestimmt in der zweiten Lebenshälfte. Die Psychologie der Lebensübergänge nutzen» ist soeben im Beltz-Verlag erschienen.

Laut der Expertin braucht es nicht viel, um auch im Alter noch voller Energie und Zuversicht zu sein.
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Wie kann man die zweite Lebenshälfte stark und selbstbestimmt in Angriff nehmen?
Es ist wichtig, bereits früh die Weichen zu stellen. Mit 40 oder 45 ist das noch einfacher als mit 70. Das Wohlbefinden in der Lebenshälfte sagt schon viel über das Wohlbefinden im Alter aus. Wir sind zwar ein Leben lang entwicklungsfähig, aber mit zunehmendem Alter wird es schwieriger, sich anzupassen. Etwas ist dabei besonders wichtig.

Was?
Wir können unser Leben und damit auch das Älterwerden viel stärker beeinflussen, als wir oft meinen. Einiges ist durch unser Umfeld, unsere Gesundheit und unsere Gene definiert. Aber wir sind dem Schicksal nicht ausgeliefert. Die Forschung zeigt, dass wir etwa 60 Prozent selber in der Hand haben. Entscheidend dafür sind Charakterstärken wie Offenheit für Neues, Selbstverantwortlichkeit und eine proaktive Haltung.

Sie betonen in Ihrem neuen Buch, dass vor allem Umbrüche und Einschnitte im Leben wichtig sind. Warum?
Lebensübergänge sind Zeiten der Veränderung. So etwa die Lebensmitte, also die Jahre zwischen 45 und 55, wo viele Veränderungen anstehen: Wechseljahre, der Auszug der Kinder, Eltern, die zunehmend hilfsbedürftig sind und sterben, viel Verantwortung im Beruf und immer mehr Konkurrenz von Jungen. Diese Umbrüche sind Herausforderungen, manchmal auch Krisen. Gleichzeitig sind sie eine Chance.

Das Älterwerden als Segen: Laut Pasqualina Perrig-Chiello reden wir nicht umsonst von der Weisheit im Alter.
Foto: Getty Images

Das klingt abgedroschen.
In manchen Ohren gar zynisch – aber es ist nun mal so. Die Forschung zeigt eindrücklich, dass Resilienz, die psychische Widerstandsfähigkeit, erst durch das Erleben von Widerständen entstehen kann. Wir werden uns unserer Stärken erst bewusst, wenn wir an unsere Grenzen geraten. Mit dem Alter lernen wir dazu, werden krisenerprobter und gelassener. Krisen geben uns die Chance zum persönlichen Wachstum.

Aber man sagt doch oft, dass wir im Alter vor allem diejenigen Dinge bereuen, die wir nicht gemacht haben.
Für die Mehrheit trifft das nachweislich nicht zu. Im Alter hat man vielmehr das Bedürfnis, sich mit der eigenen Lebensgeschichte zu versöhnen, das Leben zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Die französische Sängerin Edith Piaf sang bereits 1960: «Je ne regrette rien!» Ich bereue nichts! Das heisst nicht, dass wir uns unser Leben schönreden, sondern das ist eine bewährte Bewältigungsstrategie.

Warum sind dann einige Menschen im Alter verbittert?
Wer sich wegen verpasster Chancen und unvorhergesehener Veränderungen beklagt, ist unversöhnlich und weist Verantwortung von sich. Klar, der frühere Chef kann unfair gewesen sein, die eigenen Kinder undankbar und die Trennung vom langjährigen Partner traumatisch. Aber diese Einschnitte sind immer auch Anlass, das eigene Leben zu bilanzieren, zu reflektieren und eine neue Auslegeordnung zu machen. Daraus ergibt sich meist ein positiver Ausblick für die Zukunft – ein Plan B, der sich vielleicht sogar als besser erweist als der ursprüngliche Plan A.

Wovon hängt es ab, dass wir Lebensübergänge als Chancen und nicht als Krisen wahrnehmen?
Vor allem von Charakterstärken wie Veränderungsbereitschaft, Hoffnung, soziale Kompetenz, Selbstverantwortlichkeit. So haben beispielsweise Menschen, die nicht loslassen können und sich einseitig über den Beruf definieren, zumeist Mühe mit der Pensionierung. Oder: Wer krampfhaft versucht, jung zu bleiben, und sich über Aussehen und Leistung definiert, macht sich das Altern unnötig schwer. Den Kopf in den Sand zu stecken und die Veränderungen zu ignorieren, rächt sich fast immer. Unzufriedenheit mit sich und der Welt sind die Folgen. Darum ist es wichtig, sich schon früh breit aufzustellen und offenzubleiben. Das hilft, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu erhalten – ein Gefühl, etwas bewirken zu können, egal unter welchen Umständen.

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