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Auch nicht-antibiotische Präparate
Jedes vierte Medikament schadet der Darmflora

Nicht erst seit «Darm mit Charme» wissen wir, wie wichtig unser Verdauungsorgan ist. Eine neue Studie kommt jetzt zum Schluss, dass sich jedes vierte Medikament negativ auf die Darmflora auswirkt.
Publiziert: 07.05.2019 um 10:07 Uhr
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Aktualisiert: 02.07.2020 um 10:22 Uhr

In unserem Darm tut sich bei genauerer Betrachtung ein wahrer Kosmos auf. Von den auf und in uns lebenden etwa 100 Billionen Bakterien sind rund 99 Prozent in unserem Verdauungsorgan zu Hause. Die Gesamtheit aller dieser mikroskopisch kleinen Untermieter in den Windungen unseres Bauchs nennt man Darmflora. Der grösste Teil davon, mehr als 400 Arten, lebt im Dickdarm.

Die Bakterien in unseren Darm sind aber keineswegs nur Krankheitserreger, die bekämpft werden müssen. Vielmehr nehmen sie ausgesprochen nützliche Funktionen für den Menschen wahr. Wie nützlich sie sind, beginnt die Wissenschaft allerdings gerade erst zu begreifen. Man vermutet, dass sie aus unverdaulichen Ballaststoffen kurzkettige Fettsäuren produzieren, die einen Grossteil des Energiebedarfs der Dickdarmschleimhaut decken.

Zudem stellen sie verschiedene wichtige Vitamine wie Biotin, Folsäure oder die Vitamine B2, B12 und Vitamin K her. Extrem wichtig sind unsere Bakterien auch für das Immunsystem. Die Darmschleimhaut hat eine gewaltige Oberfläche – ein bis zwei Tennisplätze würde der Darm aufgeklappt messen. Die dort siedelnden «guten» Bakterien verhindern, dass sich krankmachende Keime ausbreiten.

Unser Darm beheimatet Billionen Bakterien.
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Prof. Stephan Vavricka vom Zentrum für Gastroenterologie und Hepatologie erklärt: «Höchstwahrscheinlich überziehen die Darmbakterien den Darm mit einer Art Schutzfilm, der vor krankmachenden Bakterien schützt. Zudem setzen sie antibiotikaähnliche Stoffe frei, die das Wachstum von krankmachenden Bakterien hemmen und das körpereigene Immunsystem aktivieren.»

Antibiotika verändert Darmflora

Die Bakterien im Darm sind also nicht krankmachend, sondern sogar enorm wichtig für uns. Dieses fein austarierte System ist aber auch empfindlich gegenüber Störungen. Beispielsweise durch die Einnahme von Medikamenten wie Antibiotika. Das Medikament ist zwar effektiv gegen krankmachende Bakterien, trifft aber auch die guten.

Eine im Jahr 2011 erschienene Studie der Stanford University School of Medicine kam zum Schluss, dass sich bereits nach drei bis vier Tagen unter Antibiotikagabe die Zusammensetzung der Darmflora dramatisch verändert. Rund ein Drittel der Bakterien verschwand. Eine Woche nach Therapieende stellte sich bei zwei von drei Probandinnen die ursprüngliche Zusammensetzung jedoch wieder ein.

Eine andere Studie vom Swedish Institute for Infectious Disease Control fand heraus, dass die Darmflora deutlich länger brauchte als die vorher vermuteten drei Monate, um sich wieder zu normalisieren. Besonders bedenklich: Bereits eine siebentägige Behandlung mit Antibiotika kann bei Darmbakterien antibiotikaresistente Gene hervorrufen.

Antibiotika aus Unkraut

Chemische Substanzen von Bakterien in einem normalen Unkraut vom Acker könnten den Schlüssel liefern für neue Medikamente – und damit bestehende Antibiotikaresistenzen überwinden.

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Chemische Substanzen von Bakterien in einem normalen Unkraut vom Acker könnten den Schlüssel liefern für neue Medikamente – und damit bestehende Antibiotikaresistenzen überwinden.

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Jedes vierte Medikament greift Bakterien an

Dass Antibiotika die «guten» Darmbakterien angreift, ist natürlich suboptimal. Eine Antibiotikakur ist jedoch im Normalfall kein Dauerzustand. Forscher vom «European Molecular Biology Laboratory» fanden jetzt aber heraus, dass nicht nur Antibiotika die Darmflora angreifen. Offenbar schaden auch viele gängige Medikamente unseren Bakterien im Verdauungsorgan. Das Forschungsteam untersuchte die Wirkung von über 1000 auf dem Markt erhältlichen Präparaten. Mehr als ein Viertel, 250 von 923 der Nicht-Antibiotika, hemmten das Wachstum mindestens einer Spezies der Darmflora.

Kiran Patil vom Forschungsteam sagt in einer Pressemitteilung zu den überraschenden Ergebnissen: «Das ist erst der Anfang. Wir wissen noch nicht, auf welche Art die meisten dieser Medikamente auf die Mikroben wirken, wie diese Effekte im menschlichen Wirt zu Tage treten und wie sich das zum Beispiel auf die Gesundheit der Patienten auswirkt. Wir müssen diese Beziehungen eingehend untersuchen, da dieses Wissen unser Verständnis sowie die Wirksamkeit vorhandener Medikamente enorm verbessern könnte.»

Vielfältige Folgen

Den Forschern zufolge könnte die Einnahme von Nicht-Antibiotika zu einer Antibiotikaresistenz beitragen. Das liegt daran, dass allgemeine Resistenzmechanismen eine grosse Rolle zu spielen scheinen. Sowohl gegen Antibiotika und auch gegen andere Medikamente.

Eine gesunde Darmflora zeichnet sich durch eine hohe Anzahl verschiedener Bakterien aus. Medikamente können diese Vielfalt negativ beeinflussen. Beispielsweise indem sie das Wachstum bestimmter Darmbakterien verhindern. Das führt zu einer Fehlzusammensetzung der Darmflora. Die Folgen können Prof. Vavricka zufolge ganz unterschiedlich sein. «Die Effekte sind mannigfaltig und reichen von Durchfall, Blähungen, Bauchschmerzen bis hin zu diversen Nahrungsmittelunverträglichkeiten.» Der Experte rät: «Medikamente sollten so kurz wie nötig in der tiefst möglichen Dosis eingenommen werden.» (lum)

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