Craniomandibuläre Dysfunktion
Wenn der Kiefer knackt, lotterts anderswo

Ein neuer Ratgeber zeigt: Viele Beschwerden von schmerzenden Knien bis zu Migräneattacken liegen eigentlich daran, dass Ober- und Unterkiefer nicht richtig aufeinanderpassen.
Publiziert: 27.01.2024 um 17:50 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2024 um 17:07 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Viele Menschen kennen es: Man rennt von Arzt zu Arzt und wird seine Rückenschmerzen, die Migräne, seinen Tinnitus, die konstanten Blähungen oder die Herzrhythmusstörungen einfach nicht los. Man eilt in die Massage, stellt seine Ernährung um, turnt, geht ins Yoga … und pupst trotzdem bei immer wiederkehrenden Migräneanfällen oder verkrampfter Nackenmuskulatur munter – oder vielleicht auch nicht so ganz munter – weiter.

Dabei könnte das Finden der Ursache unzähliger körperlicher Gebresten ganz einfach sein – doch zunächst ein kleiner Test: Öffnen Sie Ihren Mund. Halten Sie Ihre Hand mit den Fingern zum Mund senkrecht vor Ihr Gesicht. Wie viele Finger kriegen Sie übereinander in einer Vertikalen in die Öffnung Ihres Munds? Drei ist okay, vier super, zwei nicht. Zweiter Test: Öffnen Sie den Mund. Machen Sie mit dem Unterkiefer Kreisbewegungen, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Funktioniert die Bewegung flüssig oder nicht? In beide Richtungen gleich gut? Knackt es? Falls es knackt und/oder falls Sie nur zwei oder knapp drei Finger der Höhe nach in Ihren Mund bekommen, dann könnte die Ursache für Ihre Rückenschmerzen, Ihren Tinnitus, Ihre schlechten Knie oder Blähungen im Kiefer liegen.

Respektive in einer Kieferfehlstellung, bedingt durch eine Fehlfunktion der Kiefergelenke. Und dies ist wiederum durch nicht exakt angepasste Füllungen, durch angeborene Fehlstellungen, durch Zahnkorrekturen oder durch psychische Gründe verursacht – doch dazu später mehr.

Hat sich auf CMD spezialisiert und gibt am 2. Februar einen Ratgeber zum Thema heraus: Zahnärztin Hamide Farshi.
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Ein Fünftel der Bevölkerung sollte in Behandlung

Der medizinische Fachbegriff für diese Fehlfunktion lautet Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD), wobei Cranium den Schädel und Mandibula den Kiefer bezeichnet. Darunter sollen viele Menschen leiden, die Zahlen gehen je nach Studie und Schweregrad von 3 Prozent bis zu 40 Prozent der Bevölkerung aus. Auf die Schweiz berechnet sind das im Idealfall gut 250'000 und im schlimmsten Fall knapp 3,5 Millionen Menschen. Die Gesellschaft für Zahngesundheit, Funktion und Ästhetik (GZFA) schätzt, dass rund 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung behandlungsbedürftig sind – also knapp zwei Millionen Menschen in der Schweiz. Auf diese Zahl verweist auch das Universitätsspital Zürich auf seiner Website.

Warum kennt man eine derart häufig verbreitete Störung, unter der so viele Menschen behandlungsbedürftig leiden, in der Allgemeinheit aber kaum? Die deutsche CMD-Expertin und Zahnärztin Hamide Farshi, die in der kommenden Woche den Ratgeber «Der Kiefer-Code» zum Thema veröffentlicht, weiss, weshalb. «Viele Fachärzte schauen nicht genau hin», schreibt sie in ihrem Buch und meint damit sinngemäss, dass keiner über den Tellerrand schaut. So sieht sich die Knie-Spezialistin vielleicht nicht die Körperhaltung an, der Hausarzt vermutet hinter den Migräneattacken keine Zahnfehlstellung, und dem Zahnarzt erzählt man auch nicht unbedingt, dass man unter starken Blähungen leidet. So bleibt die wirkliche Ursache mannigfaltiger Beschwerden unerkannt und unbehandelt.

Ein Indikator: Dauerpupsen

Treffen die Zähne aus unterschiedlichen Gründen nicht exakt aufeinander – und dabei kann es sich um viel weniger als einen Millimeter handeln –, verkrampft sich die Kau- und Nackenmuskulatur und in der Folge die ganze Körperhaltung. So können sich die Folgen der falschen Kieferstellung durch den ganzen Körper ziehen – und in einer Art Dominoeffekt ganz anderswo im Körper zu Schmerzen führen. Die durch die Verspannung der Kau- und Nackenmuskulatur bedingten entstehenden Haltungsfehler können sich schädlich auf den Bewegungsablauf einwirken und so etwa zu Schmerzen in den Knien führen, Verspannungen im Kopfbereich können immer wieder Kopfschmerzen oder unerträgliche Migräne auslösen. Auch Tinnitus oder Sehstörungen können auftreten.

Sogar auf den Magen und das Herz hat die Kieferstellung Einfluss. Dies, weil der Vagusnerv, der vom Hirn aus unter anderem die Funktionen von Magen und Verdauung steuert, seitlich der Halsmuskulatur entlang via Magen und Darm führt. Ist nun die Halsmuskulatur dauerhaft verkrampft, sendet der Vagusnerv ständig falsche Signale an unsere Verdauung. So kann es zu ständigen Blähungen auch bei leerem Magen bis hin zu sonstigen Verdauungsproblemen wie Reizdarm kommen. Gemäss Buchautorin Farshi sind Blähungen eines der ersten und deutlichsten Anzeichen für eine Kieferfehlstellung – schon bei ganz leichten Fällen. Ein lautes Frühwarnsystem sozusagen. Und das Herz kann auf die Muskelverspannungen ebenfalls reagieren: mit einer Arrhythmie, also diesem Gefühl, wenn das Herz plötzlich für einen Moment aussetzt oder einen Schlag lang holpert.

Ursachen sind Stress, Zahnkorrekturen oder angeborene Fehlstellungen

Die Ursachen für eine Kieferfehlstellung sind mannigfaltig – und können im Verlauf eines Lebens bei jedem auftreten. Eine davon kann angeboren sein, etwa ein unbehandelter Rückbiss oder ein Tiefbiss. Andere können Folgen einer Behandlung mit einer Zahnspange sein, die im Jugendalter erfolgt ist – und zwar die Zähne gerade gerichtet, aber nicht auf die Funktionsweise der Kiefergelenke geachtet hat. Eine etwas zu hohe Zahnfüllung – es handelt sich da um Hundertstel von Millimetern – kann die Funktionsweise der Kiefergelenke genauso nachhaltig aus dem Gleichgewicht bringen wie eine schlechte Körperhaltung. Und nicht zuletzt sind psychische Ursachen an einer Veränderung der Funktionsweise schuld: Wer unter Stress steht, knirscht oder presst die Zähne aufeinander, oftmals im Schlaf. Dabei wirken Kräfte von unglaublichen sechs Tonnen auf die Kieferknochen ein. Dies führt nicht nur zu einer Verkrampfung der Muskulatur, sondern auch zu einem schleichenden Knochenabbau – worauf sich die Zähne verschieben, was wiederum zu stärkeren Verkrampfungen führt. Ein Teufelskreis.

Was also tun? Die gute Nachricht bei alledem ist: Wer nicht bereits so geschädigte Kiefergelenke hat, dass eine fortgeschrittene Arthrose entstanden ist, dem kann gut geholfen werden. Allerdings nicht von einem gängigen Zahnarzt oder von einer Kieferorthopädin, sondern von einer auf CMD spezialisierten Fachperson. Der Wermutstropfen: Viele Krankenkassen bezahlen die Abklärung nicht.

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