Star-Chirurg Thierry Carrel (57) redet Kritikern der Organspende ins Gewissen
«Die Gegner sollten Patienten sehen, die nachts fast ersticken»

Die Situation bei der Organspende in der Schweiz bleibt dramatisch: Die Ablehnungsrate bei Angehörigen ist von anfänglich 40 Prozent beim Start im Jahr 2012 auf über 60 Prozent gestiegen. Der renommierte Herzchirurg Thierry Carrel (57), was sich ändern muss.
Publiziert: 11.09.2017 um 18:09 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 08:05 Uhr
Interview: Peter Padrutt

BLICK: Herr Carrel, haben Sie ein grosses Herz?
Thierry
Carrel: Anatomisch betrachtet nicht. Im übertragenen Sinn eher schon.

Wo zeigt sich das?
Ich habe in den letzten 30 Jahren auf viel Freizeit verzichtet, um anderen Menschen zu helfen. Unter anderem habe ich mit einigen Freunden die Stiftung für das Kinderherz Corelina gegründet und verhelfe damit Kindern aus ärmeren Ländern zu einem besseren Leben.

Sie sehen so viele kranke Herzen. Haben Sie nicht Angst, dass es Sie treffen könnte?
Als Herzmediziner bin ich nicht einfach so gegen eine Herzkrankheit geschützt, aber Angst habe ich nicht. Ich weiss, dass ich mich selber um den Gesundheitszustand meines Herzens kümmern muss.

Thierry Carrel bedauert, dass immer noch zu viele Patienten auf der Warteliste für ein Herz sterben müssen, weil es keinen Spender gibt.
Foto: Ex-Press
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Wie oft sind Sie diese Woche im Operationsraum gestanden?
Jeden Tag mehrere Stunden. Das ist ja meine Berufung. Natürlich kommen viele andere Aufgaben dazu, aber es wäre schade und nicht sinnvoll, wenn ich mich meiner Kernkompetenz zu wenig widmen würde.

Sie gelten als Koryphäe, was Herztransplantationen betrifft. Wo liegt heute die grosse Herausforderung bei solchen Operationen?
Eine Transplantation als erster Eingriff ist per se nicht sehr kompliziert. Heute haben aber viele unserer Patienten eine oder mehrere Voroperationen hinter sich, zum Beispiel die Implantation eines künstlichen Herzunterstützungssystems. Das macht eine Transplantation komplexer und riskanter. Und die Korrektur eines angeborenen Herzfehlers bei einem Neugeborenen ist eine noch grössere Herausforderung. 

Es gibt heute auch Kunstherzen. Wie sind die Ergebnisse?
Kunstherzen haben an sich keine schlechte Prognose. Ein künstliches Herzunterstützungssystem erlaubt uns, bei fehlendem Spenderorgan einen Patienten am Leben zu erhalten und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt zu transplantieren. Dieser zusätzliche Eingriff bedeutet aber zusätzliche Risiken.

Die Organspenden in der Schweiz sind im Sinkflug. Wann haben Sie das letzte Mal erlebt, dass Ihnen ein Patient auf der Warteliste gestorben ist?
Diese tragische Situation kommt leider immer wieder vor, obwohl wir uns grenzenlos für unsere Patienten engagieren. Jedes Jahr sterben in der Schweiz einige Patienten, weil zu wenige Spenderorgane zur Verfügung stehen.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Patient, der bei uns auf der Warteliste war, ist an einem plötzlichen Herztod verstorben, bevor wir ihn mit einem Spenderorgan versorgen konnten. Solche Erlebnisse sind schwer zu verkraften, wenn man weiss, dass Hilfe eigentlich möglich wäre.

Der Bund und Swisstransplant haben stolze sechs Millionen Franken für eine vierjährige Kampagne ausgegeben. Aber die Bereitschaft zur Organspende bleibt klein. Was läuft falsch?
Es ist lobenswert, dass diese beiden Institutionen sich für unsere Transplantationskandidaten einsetzen. Das Thema ist komplex und wird gesellschaftlich unterschiedlich betrachtet. Leider gibt es immer noch eine grosse Kluft zwischen der positiven Einstellung der Gesellschaft zur Transplantationsmedizin und der tatsächlichen Bereitschaft, im Ernstfall selber ein Organ zu spenden.

Was würden Sie anders machen?
Eine Kampagne ist immer ein schwieriges Unterfangen. Wenn ich an meine Patienten denke, die sehnlichst auf ein Organ warten, hoffe ich fest, dass mehr Menschen zur Einsicht kommen, dass sie mit einer Organspende ein letztes wichtiges Geschenk machen können.

Ihre Ehefrau, TV-Moderatorin Sabine Dahinden, ist Trägerin eines Organspenderausweises. Wenn sie sterben sollte, würden Sie ihrem Wunsch entsprechen?
Sicher. Ich wüsste nicht, warum ich mich gegen ihren Willen entscheiden sollte.

60 Prozent der Angehörigen eines potenziellen Spenders lehnten 2016 bei den Gesprächen im Spital eine Organentnahme  ab. Die Zahl ist erschreckend gestiegen. Warum ist das so?
Bewusstsein und Aufmerksamkeit in Sachen Organspende und Transplantation sind in den Spitälern deutlich grösser geworden. Auch die Mehrheit der Bevölkerung hat Verständnis für die Transplantationsmedizin. Im unerwarteten Ernstfall allerdings, beim Hirntod eines nahen Verwandten oder Freundes, steht jeder Mensch unter Schock. Er hat dann andere Sorgen, als sich über eine allfällige Organspende Gedanken zu machen. Wenn dies vorgängig in der Familie besprochen würde, müsste die Anfrage dann nicht bei null anfangen.

Sie sind religiös – und katholisch geprägt. Viele katholische Politiker stehen der Organspende kritisch gegenüber. Was antworten Sie Ihnen?
Wer sieht, dass ein Mensch in der Nacht von Erstickungsangst geplagt wird, würde seine Meinung höchstwahrscheinlich ändern. Viele denken um, wenn sie das Leiden der Patienten sehen.

Sie gehen immer wieder ins Kloster, um Kraft zu tanken. Warum?
Das gibt mir Kraft für die nächsten schwierigen Gespräche mit Patienten und ihren Angehörigen und innere Ruhe für komplexe Operationen. Und – neben Musik und Sport – finde ich dort die Möglichkeit, zu regenerieren und über das Leben nachzudenken.

Warum lässt Gott zu, dass junge Menschen mit einem kranken Herzen trotz Ihrer Anstrengungen sterben?
Unsere Patienten haben dank unserer Anstrengungen sehr grosse Chancen, dass sie sich über viele zusätzliche Jahre freuen können. Aber das Warum bleibt eine der grössten theologisch-philosophischen Fragen.

Hadern Sie denn manchmal mit Gott?
Warum hadern? Ich bin fasziniert und auch dankbar, dass wir die Möglichkeit haben, einem sterbenden Menschen das Herz zu entnehmen, um damit einem anderen kranken Menschen ein längeres und besseres Leben zu ermöglichen.

Ihre Frau ist eine vielbeschäftigte TV-Frau. Worüber reden Sie abends, wenn Sie am Tisch sitzen?
Wir philosophieren gern über das Leben, reden über Musik und über die Herausforderungen des Alltags.

Und dann schauen Sie sich Arztserien wie «Grey's Anatomy» an?
(Lacht) Die Serie ist längstens vorbei, wenn ich Zeit dafür hätte. Und online habe ich auch anderes zu tun: Abends spät schreibe oder korrigiere ich wissenschaftliche Arbeiten. Ich lese viele Fachartikel, ich darf in meinem Beruf nie stillstehen, muss mich ständig weiterbilden.

Würden Sie eine Ihnen nahestehende Person selber operieren, falls dies notwendig würde?
Ich habe in der Vergangenheit mehrere nahe Verwandte selber operiert. Warum sollte ich Ihnen mein Wissen und mein Können vorenthalten?

BLICK berichtete diese Woche, dass die Software von 5000 Herzschrittmachern der US-Firma St. Jude Medical Sicherheitslücken aufweisen. Hacker könnten diese ausnutzen. Für wie gefährlich halten Sie die Geräte für Patienten?
Weltweit ist bisher kein einziger Fall beschrieben, in welchem diese Sicherheitslücke ausgenutzt worden wäre, um unerlaubten Zugriff auf ein implantiertes Gerät zu erhalten. Ein derartiges Szenario ist nicht ausgeschlossen, aber äusserst unwahrscheinlich. Patienten mit betroffenen Geräten sind nicht gefährdet.

Was muss man tun?
Die Firma St. Jude Medical hat ein Firmware-Update entwickelt, um diese Sicherheitslücke zu schliessen. Sobald dieses Update zugelassen ist, kann es anlässlich einer Schrittmacher-Kontrolle installiert werden.

Werden Sie die Schrittmacher der betreffenden Firma nicht mehr verwenden?
Schrittmacher, bei welchen die beschriebene Sicherheitslücke besteht, werden nicht mehr implantiert.

Hand aufs Herz: Leben Sie als Arzt so gesund, dass Sie nie eine neue Pumpe brauchen?
Ich setze alles daran, um einen gesunden Lebensstil zu haben, lege Wert auf eine gesunde Ernährung und Sport. Alles kann man aber nicht verhindern: Es gibt Menschen, die sehr gesund leben und plötzlich an einem viralen Infekt erkranken, der das Herz in wenigen Tagen schwer schädigen kann.

Wo könnten Sie mehr für die Gesundheit tun?
Wenn ich mich nicht so sehr über die vielen Probleme im Gesundheitswesen ärgern würde! Ich sollte hier viel gelassener reagieren, obschon immer mehr Bürokraten unseren Alltag erschweren.

Sie gaben schon mehrmals den DJ an Partys. Ist das gesund fürs Herz?
Klar, Musik und Tanz sind belebend. Bei den besagten Partys ging es natürlich schon laut zu und her. Für die Ohren sind 90 bis 100 Dezibel Lautstärke nicht wirklich gesund, aber es dauerte ja nur zwei, drei Stunden.

Sie sind 57. Wie lange sollte ein Chirurg operieren? Sollte es eine Altersgrenze geben?
Ich fühle mich körperlich fitter als vor zehn Jahren, und meine Erfahrung ist heute viel grösser als früher. Viele Patienten – aber auch jüngere Chirurgen in Ausbildung – können davon profitieren. Ich denke, eine Altersgrenze ist nicht zielführend. Die Alterslimite ist vor allem abhängig von der Motivation und von der physischen Form.

Wovon bekommen Sie Herzklopfen?
Wenn ich auf dem Rennvelo den Sustenpass hinaufradle. Oder im Konzertsaal, wenn ich den Schlusssatz der zweiten Symphonie von Mahler höre, wenn der Chor das Lied der Wiederauferstehung singt.

Sie sorgen dafür, dass Menschen, die sonst sterben würden, überleben. Sind Sie Gott?
Hören Sie auf! Götter in Weiss sind gut für Hollywood. Ich bin Chirurg, das heisst auch Handwerker, und freue mich, wenn ich Menschen helfen kann.

Chirurg und Musiker

Der Freiburger Thierry Carrel (57) gehört zu den erfahrensten Herzchirurgen der Schweiz. 1999 wurde er zum Direktor der Uniklinik für Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern ernannt und hat viele Herztransplantationen durchgeführt. Seit 2014 ist er auch Co-Chefarzt der Herzchirurgie der Hirslanden Klinik Aarau. Carrel, der privat gern musiziert (Trompete, Bass-Posaune) und eng mit dem berühmten Komponisten Arvo Pärt (81) befreundet ist, amtet auch als Präsident der Kinderherz-Stiftung Corelina. Er ist in zweiter Ehe mit TV-Moderatorin Sabine Dahinden (49) verheiratet und Vater einer 1993 geborenen Tochter. 

Der Freiburger Thierry Carrel (57) gehört zu den erfahrensten Herzchirurgen der Schweiz. 1999 wurde er zum Direktor der Uniklinik für Herz- und Gefässchirurgie des Inselspitals Bern ernannt und hat viele Herztransplantationen durchgeführt. Seit 2014 ist er auch Co-Chefarzt der Herzchirurgie der Hirslanden Klinik Aarau. Carrel, der privat gern musiziert (Trompete, Bass-Posaune) und eng mit dem berühmten Komponisten Arvo Pärt (81) befreundet ist, amtet auch als Präsident der Kinderherz-Stiftung Corelina. Er ist in zweiter Ehe mit TV-Moderatorin Sabine Dahinden (49) verheiratet und Vater einer 1993 geborenen Tochter. 

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