Tabuthema Paruresis
Angst vor dem Pissoir-Pinkeln – das kannst du dagegen tun

Paruresis heisst eine Phobie, die Männer in Anwesenheit anderer am Urinieren hindert. In ausgeprägter Form kann sie Betroffene ins Elend stürzen. Dann empfiehlt sich eine Behandlung, die eine Zusammenarbeit mit einem «Pinkel-Kumpel» beinhalten kann.
Publiziert: 03.02.2024 um 12:09 Uhr
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Aktualisiert: 05.02.2024 um 10:49 Uhr
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Jonas DreyfusService-Team

Nicht allen Männern fällt es leicht, auf öffentlichen Toiletten Schulter an Schulter mit anderen zu urinieren. Dann pinkelt man halt in einer Kabine, kein Problem. Schwieriger wird es für Menschen, die an einer Paruresis leiden – eine Phobie, die Wasserlassen in tatsächlicher oder gefühlten Anwesenheit fremder Personen komplett verunmöglicht. Die Angststörung wird auch als schüchterne Blase bezeichnet oder mit dem Begriff «Pissoir-Phänomen» beschrieben. 

Betroffene – die allermeisten sind Männer – können bei prallgefüllter Blase oftmals nicht einmal pinkeln, wenn andere in Hördistanz sind oder sie das Gefühl haben, es warte jemand vor der Tür. Sie fürchten sich davor, dass jemand merkt, wie schwer es ihnen fällt, in dieser Situationen Wasser zu lassen. 

Wer mit einem Pinkel-Kumpel trainiert, lässt sich in einem ersten Schritt von weitem beim Geschäft zusehen.
Foto: Getty Images

Wer eine schüchterne Blase hat, ist in einem Moment komplett angespannt, in dem es eigentlich Entspannung bräuchte. Die sogenannten Ringmuskeln um die Blase ziehen sich zusammen und verschliessen die Harnröhre. Eigentlich müsste der Blasenmuskel schlaff und der Schliessmuskel angespannt sein, damit es vorne läuft und hinten dicht ist. 

Der Gruppendruck auf Männer-WCs kann für Einzelne zum Problem werden.
Foto: Getty Images

Unschöne Erlebnisse in der Pubertät

Rund drei Prozent der deutschen Männer leiden in irgendeiner Form an Paruresis. Zu diesem Schluss kommt eine von Philipp Hammelstein durchgeführte Studie. Der Kölner Psychotherapeut ist Spezialist auf dem Gebiet und Autor des Standardwerkes «Lass es laufen! Ein Leitfaden zur Überwindung der Paruresis» aus dem Jahr 2005.

Gemäss ihm ist der Auslöser für eine schüchterne Blase oft ein Erlebnis in der Pubertät. Er beschreibt in seinem Buch den Fall von Patrick E. (25), der in der siebten Klasse von zwei älteren Schülern dabei beobachtet wurde, wie er, ohne zu pinkeln, vor dem Pissoir stand. «Was bist du denn für einer, bei dir komm ja nichts raus, warum bist du denn auf dem Klo?», sagte einer der älteren Schüler.

Längerfristig führte das beim Studenten und Kapitän eines Sportvereins dazu, dass er nur noch daran denken konnte, wann und wo er als Nächstes ungestört aufs Klo gehen könnte, und irgendwann nur noch depressiv im Bett lag.

Gemeinsames pinkeln als Ritual

In manchen Vereinen, beim Sport oder in Stammtischrunden ist es ein Ritual, dass Männer sich locker geben, wenn sie in Gesellschaft urinieren. Für Phobiker der Horror. Sie meiden Anlässe wie Musikfestivals und Aktivitäten wie lange Gruppenwanderungen. Manche nehmen vor Langstreckenflügen keine Flüssigkeit mehr zu sich oder verzichten ganz aufs Reisen. Den Arbeitsort wähle sie nach dem Kriterium «Nähe zur eigenen Wohnung» aus. 

Paruresis sei ein zu Unrecht wenig beachtetes Thema, sagt André Reitz (53), Urologe an der Klinik Hirslanden in Zürich und Autor des Sachbuchs «Kompass Männergesundheit». Er sehe regelmässig Patienten mit Pissoir-Syndrom. «Sie leiden mitunter sehr.» 

Spezialist für Neuro-Urologie

André Reitz (53) ist ärztlicher Leiter des Kontinenzzentrums in der Klinik Hirslanden in Zürich. Sie gehört zur Hirslanden-Gruppe, die 17 Kliniken in 10 Kantonen betreibt. Das Zentrum ist spezialisiert auf Probleme rund um die Blase und den Beckenboden. Neben Frauen und Männern werden auch Kinder behandelt. Reitz veröffentlichte Anfang Jahr den «Kompass Männergesundheit». Es ist die vierte, stark überarbeitete Auflage eines Sachbuches, das er im Jahr 2007 herausbrachte. Der Urologe mit Spezialgebiet Neuro-Urologie stammt aus Münster (D). Er lebt seit 2000 im Kanton Zürich und ist deutsch-schweizerischer Doppelbürger.

zVg

André Reitz (53) ist ärztlicher Leiter des Kontinenzzentrums in der Klinik Hirslanden in Zürich. Sie gehört zur Hirslanden-Gruppe, die 17 Kliniken in 10 Kantonen betreibt. Das Zentrum ist spezialisiert auf Probleme rund um die Blase und den Beckenboden. Neben Frauen und Männern werden auch Kinder behandelt. Reitz veröffentlichte Anfang Jahr den «Kompass Männergesundheit». Es ist die vierte, stark überarbeitete Auflage eines Sachbuches, das er im Jahr 2007 herausbrachte. Der Urologe mit Spezialgebiet Neuro-Urologie stammt aus Münster (D). Er lebt seit 2000 im Kanton Zürich und ist deutsch-schweizerischer Doppelbürger.

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Die Blase und der Schliessmuskel werden von feinen Nervengeflechten des vegetativen Nervensystems kontrolliert und gesteuert. Sie seien also anfällig für Stress und andere emotionale Faktoren, sagt Reitz. Trotzdem sei eine kurze urologische Untersuchung sinnvoll, um rein körperliche Ursachen wie Prostatavergrösserung und Harnröhrenverengung auszuschliessen. Der Arzt überprüft per Ultraschall, ob sich die Blase vollständig entleert, was gemäss Reitz meist der Fall ist.

Im Gespräch erläutere der Urologe dann die Natur des Problems und könne so bereits viel Angst und Unsicherheit nehmen. «Schliesslich funktioniert die Blase grundsätzlich ja normal.» Ablenkung könne helfen, sagt Reitz. Innerlich ein Gedicht zu rezitieren oder eine Rechenaufgabe lösen, zum Beispiel. In seltenen Fällen könne auch eine Verhaltenstherapie sinnvoll und zielführend sein. 

Geteiltes Leid ist halbes Leid

Es handelt sich dabei um die direkte Konfrontation mit der Situation, vor der man sich fürchtet, unter Begleitung einer Fachperson. Paruresis-Spezialist Philipp Hammelstein bietet die Behandlung in Köln an. In der Schweiz gibt es nur wenige Angebote. 

Ein Teil der Therapie besteht darin, dass sich der Patient einen sogenannten «Pee-Buddy» in einem Online-Forum sucht oder ihn sich vom Therapeuten vermitteln lässt. Mit dem Pinkel-Kumpel begibt er sich an den Ort des Schreckens: ein öffentliches WC. Der Kumpel schaut und hört erst mal von weitem zu, wenn der Patient am Pissoir oder in der Kabine Wasser zu lassen versucht. Meist handelt es sich um jemanden, der dasselbe Problem hat. Das entspannt die Situation. 

Mit jeder «Sitzung» rückt der Buddy näher. Im Idealfall stehen beide am Schluss Schulter an Schulter am Pissoir und verrichten in Ruhe ihr Geschäft.

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