Beim Waldbaden Kraft in der Natur tanken
Mehr als bloss Bäume umarmen

Fühlen, Riechen, Hören, Sehen, Schmecken – beim Waldbaden taucht man mit allen Sinnen in die Natur ein. Was hinter der japanischen Achtsamkeitstechnik steckt, verrät eine Expertin.
Publiziert: 21.10.2020 um 09:55 Uhr
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Aktualisiert: 07.04.2021 um 16:36 Uhr
Vanessa Büchel

Wer sich jetzt vorstellt, dass man beim Waldbaden in der Badehose in einen Waldweiher hüpft, der wird enttäuscht. Auch geht es nicht darum, bloss Bäume zu umarmen. Vielmehr steht beim Waldbaden das achtsame Spazieren durch den Wald im Fokus.

Die Idee, in den Wald zu gehen, um sich dort zu entspannen, stammt ursprünglich aus Japan. Dort wird das Waldbaden, das Shinrin-Yoku genannt wird, von Ärzten verschrieben. DIe Japaner gehen seit 40 Jahren in sogenannte Healing Forests, die mit speziellen Trails ausgestattet sind. «Auf diesen Wegen wird man dann von einem Guide begleitet. Es handelt sich um eine Art ‹möblierter› Wald, der unter anderem mit Toiletten, Restaurants, Meditations- bzw. Qigongplattformen und Häuschen zum Aufwärmen ausgestattet ist», erklärt Nadine Gäschlin (51) BLICK. Sie ist Traumatherapeutin und diplomierter systemischer Coach für Krisenintervention, Stress und Burnout. Gäschlin führt die Waldbaden Akademie Schweiz – das Unternehmen ist unabhängig von der Deutschen Akademie für Waldbaden –, die in der Schweiz Ausbildungen zum Shinrin-Yoku-Gesundheitstrainer und im Sommer im Berner Oberland Retreats für Waldbaden und Selfcare anbietet.

In der Schweiz gewinnt die Achtsamkeitstechnik aus Japan mehr und mehr an Beliebtheit. «Als ich vor drei Jahren meinem Umfeld sagte, ich wolle das beruflich machen, wussten zehn von zehn Leuten nicht, wovon ich eigentlich rede», sagt Gäschlin schmunzelnd. Das habe sich in den letzten Jahren extrem gewandelt. Die Nachfrage sei enorm gestiegen, und auch die Anzahl Anbieter für Waldbaden wachse ständig.

Beim Waldbaden hüpft man nicht etwa in Badehosen in einen Waldweiher oder umarmt Bäume.
Foto: Getty Images/Westend61
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«Der Wald spricht ununterbrochen mit uns»

Die Badehose bleibt zu Hause, doch was genau macht man denn beim Baden zwischen den Bäumen? «Das Waldbaden ist eine achtsamkeitsbasierte Entspannungsmethode zur Gesundheitsförderung. Wir bringen Aspekte aus dem Achtsamkeitstraining, der Meditation und der chinesischen Bewegungsform Qigong raus in die Natur. Das Ziel: Während achtsamen Momenten in und mit der Natur leiten wir die Teilnehmer an, im Hier und Jetzt zu verweilen», sagt die Waldbaden-Akademie-Leiterin.

Wir Menschen leben im Grunde drei Viertel von unserem Tag entweder in der Vergangenheit oder Zukunft. Das könne ein potenzieller Stressfaktor darstellen, wie Gäschlin ausführt. «Das ist so, weil wir dort nur eine begrenzte Selbstwirksamkeit haben.»

Beim Waldbaden wird mit all den Eindrücken gearbeitet, welche die Natur dem Menschen schenkt. Und diese Eindrücke nehmen Teilnehmer mit allen Sinnen wahr. «Der Wald spricht im Grunde ununterbrochen mit uns», so die Expertin.

Die Bäume selbst kommunizieren über bestimmte Duftstoffe miteinander, welche Terpene genannt werden. Wir Menschen nehmen sie nicht bewusst wahr, aber man hat herausgefunden, dass sie verschiedenste positive Wirkungen auf unseren Körper haben, wie die Expertin sagt.

Übungen werden Einladungen genannt

Begleitet Gäschlin Menschen beim Waldbaden, schlägt sie bestimmte Einladungen vor, die die Teilnehmer zum Staunen bringen und sie darin unterstützen sollen, im Hier und Jetzt anzukommen. Die Teilnehmer ihrer Kurse und Retreats werden über die Sinne abgeholt. Es gebe neben Anregungen für den Sehsinn auch Einladungen, die sich auf den Hörsinn und Tastsinn fokussieren, der Wald und die Natur werden aber auch über den Geruchssinn und Geschmackssinn erkundet.

So endet jedes Shinrin-Yoku-Gesundheitstraining mit einer Teezeremonie. Den Tee machen die Teilnehmer gemeinsam mit Gäschlin. Dafür werden Wildkräuter oder Tannennadeln gesammelt, die es im jeweiligen Wald gibt.

Weiter nennt die Expertin ein Beispiel, um das Ganze zu veranschaulichen: «Wir geben unseren Teilnehmern beispielsweise einen Bilderrahmen, einen Passepartout. Damit können sie dann im Waldstück die kleinen und bestaunenswerten Kunstwerke der Natur suchen und aufmerksam erkunden. Wichtig ist dabei, dass es nicht darum geht, einfach möglichst viele Kunstwerke zu sehen, sondern zu lernen, bei einem ‹Bild› zu verweilen und es über die Farben, Formen oder Strukturen wie ein Kunstwerk wahrzunehmen», erklärt Gäschlin. Der Rahmen wird dann auf den Boden gelegt und jedes Mal entsteht ein ganz neues Kunstwerk. Der Rahmen helfe dabei, sich fokussieren zu können, «weil die Natur manchmal so überschwänglich ist, dass wir gar nicht wissen, wo überhaupt hinschauen». So können wir unsere Aufmerksamkeit sanft bündeln.

Dabei gehe es nicht darum, im Anschluss an die Einladung den Leuten zu erklären, was welche Moosart ist oder wie welcher Pilz heisst, sondern darum, die Leute wieder zum Staunen zu bringen. «Weil – und das ist ein wichtiger Teil des Waldbadens – Stauen entspannt uns. Wenn wir staunende Menschen sind, befinden wir grundsätzlich eher in einem glücklichen und entspannten Zustand.»

Langsames Tempo

Ein wichtiger Bestandteil der Technik stellt auch die Geschwindigkeit dar. Auf keinen Fall wird schnellen Schrittes zwischen den Bäumen hindurchgeeilt. Gäschlin sagt: «Wir sind sehr langsam unterwegs. Wenn man normalen Wandern vielleicht vier Kilometer pro Stunde zurücklegt, bewegen wir uns beim Waldbaden etwa 500 Meter pro Stunde.»

Normalerweise gehen wir Menschen mit einer Aktivität durch die Natur. Wir gehen wandern oder joggen und nutzen den Wald dafür als Grundlage. Beim Waldbaden wird dagegen ein entschleunigtes «mit der Natur» ohne digitale Filter angestrebt, wie Gäschlin anmerkt. So bleibt beim Waldbaden das Handy auch ausgeschaltet.

Positive Effekte auf die Gesundheit

Neben den Terpenen, die unserem Körper und der Psyche guttun, hat das Waldbaden durch die achtsamkeitsbasierten Aktivitäten und Qigong weitere gesundheitsfördernde Wirkungen: «Es aktiviert den Parasympathikus, welches der entspannende Teil des Nervensystems ist. Darum ist es auch so beruhigend für uns», weiss Gäschlin.

Ausserdem reguliere Waldbaden nachweislich den Blutdruck, es verlangsame grundsätzlich den Herzschlag und rege unser Immunsystem an.

«Sobald ich Aktivitäten mit meinem Körper mache, bei denen mein Parasympathikus aktiviert wird und meine Gedanken zur Ruhe kommen, werden weniger Stresshormone, aber mehr Glückshormone ausgeschüttet.» Da eine hohe oder chronische Stressbelastung und die damit zusammenhängende konstante Ausschüttung von Stresshormonen zu einem geschwächten Immunsystem und gesteigerten Entzündungsprozessen im Körper führen können, wirkt Waldbaden dadurch positiv auf unser Immunsystem und unsere physische und psychische Gesundheit allgemein.

Grün tut gut

Dass die Umgebung und das viele Grün einen positiven Einfluss nehmen, ist kein Geheimnis: «Da gibt es zahlreiche und umfassende Studien dazu. Man fand heraus, dass es viel häufiger zu Krankheiten kommt und das Stresslevel höher ist, wenn der Mensch weniger von der Natur umgeben ist», so Gäschlin.

Eine der ersten dieser Studien führte der Architekturprofessor Roger S. Ulrich von der Chalmers Universität im schwedischen Göteborg vor rund 30 Jahren durch. Er untersuchte die heilsame Wirkung von Büschen und Bäumen. Die Teilnehmer der Forschung stellten Patienten dar, die eine Gallenblasen-Operation hatten. Es wurden zwei Gruppen erstellt: Die einen hatten vom Krankenhausbett eine Aussicht aus dem Fenster aufs Grüne, die andere konnten nur eine Backsteinmauer sehen. Die erste Gruppe erholte sich demnach schneller von der Operation und brauchte kleinere Dosen an Schmerzmittel.

Waldbaden ist «Zeit, die man sich schenkt»

Für Gäschlin ist es vor allem «die Zeit, die man sich schenkt», die sie am Waldbaden so schätzt. Die Expertin sagt: «Beim Waldbaden geht es um Selbstfürsorge. Dass man sich die Zeit für sich selber nimmt und schaut, was einem im Moment guttut.»

Besonders der Teil der Gehmeditation hat es der Waldbaden-Akademie-Leiterin angetan. Es sei für sie revolutionär, dass sie auch an der frischen Luft und nicht sitzend meditieren könne. «Ich bin jemand, der eben die Bewegung braucht.»

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