Wenn soziale Medien zur Sucht werden
In der Tiktok-Klinik

Die EU hat ein Verfahren gegen Tiktok eröffnet, weil die Algorithmen der Plattform süchtig machen sollen. Eine neue Klinik in Thun behandelt junge Erwachsene, die sich in sozialen Medien verloren haben. Die Nachfrage ist gross.
Publiziert: 03.03.2024 um 19:24 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2024 um 15:04 Uhr

Eigentlich will man nur kurz Pause machen. Man öffnet Tiktok – mit der festen Überzeugung, in zehn Minuten weiterzuarbeiten. Aber Tiktok weiss fast schon gespenstisch genau, was Nutzerinnen und Nutzer sehen wollen. Also denkt man sich: nur noch ein Video. Und plötzlich ist eine Stunde vergangen, zwei Stunden – oder noch mehr.

Tiktok gehört bei den 12- bis 19-Jährigen zu den beliebtesten Apps, wie die James-Studie von 2022 herausfand. Doch während Tiktok für die einen bloss harmlose Unterhaltung ist, können sich andere kaum aus seinem Bann lösen: Gemäss einer HSBC-Studie von 2023 weisen rund sieben Prozent der 11- bis 15-Jährigen in der Schweiz eine problematische Nutzung der sozialen Netzwerke auf – das heisst, sie haben Schwierigkeiten, offline zu gehen, vernachlässigen Schlaf, Schulaufgaben und Familienleben. Eine Social-Media-Sucht gehört wie Kauf- oder Spielsucht zu den sogenannten nicht stoffgebundenen Verhaltenssüchten. Bislang gibt es nur wenige Orte in der Schweiz, an denen solche Süchte behandelt werden.

Aus diesem Grund entschied sich die Privatklinik Meiringen, die im Berner Oberland für die psychiatrische Grundversorgung zuständig ist, in Thun einen neuen Standort zu eröffnen: Im Psychiatriezentrum für junge Erwachsene finden Betroffene im Alter zwischen 18 und 25 Jahren seit Anfang Jahr Hilfe. Stephan Kupferschmid (48) ist Chefarzt und Zentrumsleiter, er sagt: «Wir konzentrieren uns bewusst auf diese Altersgruppe.» Man erhalte zwar Anfragen von 16-Jährigen, aber momentan richte sich der Leistungsauftrag an 18- bis 25-Jährige.

Tiktok gehört zu den beliebtesten Apps unter den 12- bis 19-Jährigen, wie die JAMES-Studie von 2022 herausfand.
Foto: Getty Images
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Mit Betroffenen einen gemeinsamen Weg finden

Die bereits zur Verfügung stehenden Einzelzimmer sind alle belegt. Bis Ende April sind insgesamt 30 Therapieplätze geplant. Jedes Zimmer verfügt über ein eigenes Bad, ein grosses Bett und einen Schreibtisch. Der Speisesaal ist lichtdurchflutet, Pflanzen hängen von der Decke. Sofort fällt der grosse Fernseher in der hinteren Ecke des Raumes auf. Gilt hier nicht etwa striktes Medienverbot?

Kupferschmid lacht und schüttelt den Kopf. Er hält nicht viel von Verboten beim Medienkonsum. Das Ziel sei, mit den Betroffenen gemeinsam einen Weg zu finden. Aus diesem Grund setzt die Klinik auf die sogenannte Dialektisch-Behaviorale Therapie. Das bedeutet: Zweimal pro Woche finden Einzeltherapien statt, drei- bis viermal Gruppentherapien. Aber auch Sport, Malen und Achtsamkeit sind Teil des Stundenplans. Die jungen Erwachsenen sollen lernen, wie sie ihren Alltag selbständig gestalten können und Alternativen zum Medienkonsum finden.

Bereits vier Wochen nach der Eröffnung war die Klinik voll belegt, die Wartefrist beläuft sich auf mehrere Wochen. Denn: In den letzten zehn Jahren habe die Zahl an Jungen, die Hilfe suchen, massiv zugenommen, sagt Kupferschmid. «Wir reden hier nicht von fünf oder sechs Prozent, sondern von etwa 25 Prozent.» Junge Menschen profitieren besonders von einer altersspezifischen Station. Es brauche spezifische Angebote für sie, erklärt er: «Ein 20-Jähriger hat andere Bedürfnisse als beispielsweise eine 50-Jährige, die schon mehrere Krankheitsepisoden hinter sich hat.»

«Tiktok ist ein Aufmerksamkeitsstaubsauger»

Obwohl das Angebot ein breites Spektrum an psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungen umfasst, beachtet die Klinik auch die Nutzung von Social Media besonders genau. «Wenn junge Menschen bei uns wegen Depressionen oder Angststörungen behandelt werden, haben Social Media einen grossen Einfluss», erklärt Kupferschmid. Frage man junge Erwachsene, was sie am meisten stresst, laute die Antwort sehr oft: soziale Medien.

«Tiktok ist ein Aufmerksamkeitsstaubsauger», sagt er. «Man macht etwas, obwohl es einem nicht guttut, weil der kurzfristige Kick stärker wiegt als die langfristigen Folgen.» Das sei letztendlich ein typisches Merkmal einer Abhängigkeit.

Auch Lulzana Musliu (35), Leiterin Politik und Medien bei Pro Juventute, sieht in Tiktok ein Suchtpotenzial. Die Schweizer Stiftung unterstützt Kinder und Jugendliche sowie deren Familien beispielsweise beim Erlernen von Medienkompetenz oder der Beratung bei Cybermobbing. Laut Musliu geht es aber nicht darum, Tiktok zu verbieten, sondern einen guten Umgang zu vermitteln: «Tiktok gehört nun mal zum Alltag. Es wäre unrealistisch, so zu tun, als würden soziale Medien wieder verschwinden.» Trotzdem sei es gut, wenn die grossen Player an ihre Verantwortung erinnert werden.

Und genau das versucht die EU-Kommission, indem sie ein Verfahren gegen Tiktok eröffnete. Nun wird geprüft, ob der Online-Riese genügend gegen die Verbreitung illegaler Inhalte vorgeht und etwa bei Jugendschutz und Werbetransparenz gegen EU-Regeln verstösst. In der Schweiz wird der Bundesrat bis Ende April eine Vernehmlassungsvorlage zur Regulierung der Kommunikationsplattformen ausarbeiten: Dadurch sollen unter anderem die Rechte der Schweizer Bevölkerung gestärkt und von den Plattformen mehr Transparenz gefordert werden. Auch ein Alterskontrollsystem für Jugendliche ist vorgesehen.

Stephan Kupferschmid begrüsst, dass die Politik aktiv wird. Ihm zufolge unternimmt die Plattform in Bezug auf Algorithmen, die rasch zu extremen und potenziell gefährlichen Inhalten führen, momentan nicht genug, um Jugendliche zu schützen. Auch verstärkte Prävention würde er gutheissen: «So kann insgesamt die Medienkompetenz gestärkt werden.»

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