Warum krampfhaft positives Denken ungesund ist
«Glück ist nicht erzwingbar und bedeutet für jeden etwas anderes»

Man wird mit Tipps überhäuft, die zu positivem Denken und letztlich einem erfolgreicheren Leben führen sollen. Der Druck, dem man sich dadurch aussetzt, kann ungesund sein und unglücklich machen.
Publiziert: 17.05.2021 um 09:04 Uhr
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Aktualisiert: 21.05.2021 um 09:04 Uhr
Sonja Zaleski-Körner

Oft hat man das Gefühl, dass um einen herum alle glücklich sind und man es selbst nicht schafft, so zufrieden wie die anderen zu sein. Kein Wunder, dass sich zahlreiche Ratgeber und Coaches auf positives Denken spezialisiert haben. Durch motivierende Gedanken soll man angeblich im Privat- und Berufsleben erfolgreicher und glücklicher werden. Caroline Theiss (52) ist Trainerin im Bereich Selbstmanagement und Persönlichkeitsentwicklung und warnt davor, zwanghaft optimistisch zu denken: «Viele glauben, dass einseitig positive Gedanken dabei helfen, Ziele zu erreichen und einen glücklich machen. Aber so einfach ist das nicht.»

Zunächst ist es laut der Expertin wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir in einer enorm auf das Äussere fixierten Welt leben, in der sich jeder nach aussen lässig und schön zeigen will. Vor allem auf Social Media kann man dies beobachten. Praktisch alle Bilder sind bearbeitet und zeigen nur die guten Seiten des Lebens. Dies kann zur Folge haben, dass man sich schlechter als der Durchschnitt fühlt. «Das ‹Lollipop-Life›, in dem alles perfekt scheint, legt die Latte der Ansprüche an ein glückliches Leben viel höher, als es früher der Fall war», sagt Theiss. «Die Botschaft ist, dass man erst an sich arbeiten muss, um genauso gut, schön oder erfolgreich zu sein wie andere. Und nicht, dass man auch zufrieden mit sich sein kann, so wie man ist.»

Krampfhaft positives Denken ist ungesund

Ausserdem führe der «Glücksimperativ», unter dem wir heute stehen, sowie das ständige Bewerten von Dingen zu einem enormen Druck, wie Theiss erklärt: «Menschen haben ein ganz starkes von der Gesellschaft geprägtes Bewertungsempfinden, was gut und was schlecht ist. Bin ich schlank und sportlich ist das gut, bin ich eher mollig und der gemütlichere Typ, ist das schlecht. So hat man schnell das Gefühl, anders sein zu müssen, um in der Welt der Schönen und Erfolgreichen dabei sein zu können.»

Caroline Theiss (52) ist Selbstmanagement-Trainerin und rät davon ab, ständig positiv zu denken.
Foto: Rainer Wolfsberger
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Viele erhoffen sich, dass es ihnen von Tag zu Tag besser geht, wenn sie optimistischer sind und Selftracking betreiben, sich selbst und ihr Verhalten also penibel beobachten. «Man sagt sich vor dem Spiegel positive Affirmationen, die man im Selbsthilfehandbuch gelesen hat, doch innerlich fühlt man sich nicht dementsprechend. So funktioniert unsere Psyche leider nicht. Dadurch entsteht eine Inkonsistenz, eine Divergenz zwischen der Wahrnehmung der Realität und den Wünschen, was letztlich eine Spannung zwischen Kopf und Körper bedeutet», stellt Theiss klar.

So entstehen zusätzlich zur bereits vorhandenen negativen Selbstwahrnehmung ein Gefühl des Versagens und Schuldgefühle, wenn es nicht klappt. Das Selbstwertgefühl sinkt, wie die Selbstmanagement-Trainerin weiss. Im Endeffekt könne es einem dadurch sogar schlechter als vorher gehen. Natürlich sei es möglich, sich eine positive Haltung zu erarbeiten, aber diese komme wirklich von innen.

«Wir sind die Nachfahren von Pessimisten»

«Es gibt immer natürliche Zyklen und Abläufe, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, Erfolg und Misserfolg, Liebe und Liebeskummer – so ist das Leben! Wenn wir Leid oder Misserfolge erleben, ist es elementar Trauer und Selbstreflexion auch zuzulassen», meint die Expertin. Daraus resultierende negative Affekte ermöglichen es uns laut Theiss erst, aus Erfahrung zu lernen und daran zu wachsen. Ausserdem werde man sich so seiner eigenen Ressourcen und Fähigkeiten bewusst: «Wir lernen nicht im Erfolg. Wer immer positiv denkt und sich weigert auch die eigenen Schattenseiten zu betrachten, wird menschlich nicht reifen.»

Auch evolutionspsychologisch sei dieser Erfahrungsprozess wichtig, wie Theiss klarstellt. Denn primär haben die Ängstlichen und Pessimisten überlebt. Optimisten waren oft zu mutig und sind deshalb nicht unsere Vorfahren geworden. Dennoch sei ein stabiles Urvertrauen ins Leben wichtig, das einem auch in Schwierigkeiten nicht verloren gehe und einen wissen lasse, dass auch schwere Zeiten vorübergehen. Vermeintliche Missgeschicke können sich auch als Glücksfall entpuppen, meint die Expertin: «Wenn ich beispielsweise den gewünschten Job nicht bekomme, sich dafür aber kurz darauf unerwartet eine viel bessere Option ergibt.» Dies steht aber im Gegensatz zum positiven Denken, welches langfristig krank und unglücklich machen kann, so Theiss.

Weitere Ursachen für Unzufriedenheit und Erschöpfung

Der Fokus der Nachrichten, die uns täglich begegnen, liegt meist auf Negativem, weshalb eine Form von «positiver Rüstung» gebraucht wird, meint die Trainerin für Persönlichkeitsentwicklung. Durch kompetente Selbstreflexion und Selbstregulation, mit denen man Impulse, Handlungen und Reaktionen steuern kann, könne man sich aber davor schützen.

«Man kann im Leben nicht alles planen. Es passieren Dinge, die wir uns wünschen und welche, die wir uns nicht wünschen», sagt Theiss. Sie hält deshalb nichts von Kontrollillusionen und rät dazu, sich von solchen zu befreien. «‹Go with the flow›, wie man heute sagen würde», empfiehlt die Expertin und zitiert dazu Philosophen Reinhold Niebuhr (1892-1971): «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.»

Aufgrund von langjähriger Erfahrung weiss die Expertin, dass Menschen heute schon in jüngerem Alter erschöpft sind als früher: Statt 40-Jährigen suchen sich oft schon 20-Jährige Hilfe, weil der innere Leidensdruck zu gross ist und sie permanent unter Spannung stehen, besser sein zu müssen.»

So wird man tatsächlich zufriedener

«Die Erkenntnis, nicht immer glücklich sein und keinem von aussen auferlegtem Glücksideal hinterherlaufen zu müssen, bewirkt eine grosse Erleichterung. Glück ist nicht erzwingbar und bedeutet für jeden etwas anderes», erläutert die Selbstmanagement-Trainerin. Wer ein vermeintlich ideales, nach aussen hin scheinbar perfektes Leben führe, könne sich trotzdem innerlich leer fühlen. Man kann laut Theiss das Glück nicht planen, auch wenn es natürlich verständlich ist, dass man gerne die Kontrolle darüber hätte.

Doch die Expertin hat einen praktischen Tipp für alle, die zufriedener werden wollen: Ein Tagebuch, in das man jeden Abend die schönsten Glücksmomente des Tages notiert. Dies könne zum Beispiel ein Kaffee sein, den man genüsslich in der Sonne getrunken hat. Oder ein nettes Gespräch mit einer Kassiererin. «Wird man sich solcher kleinen, goldenen Augenblicke bewusst, hält man im Alltag auch Ausschau danach. Es entsteht ein Fokus-Shift in der Psyche und man wird zufriedener, ohne sich dies künstlich einreden zu müssen.»

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