Jahrhundertelang verschwiegen und verschmäht
Jetzt reden wir über die Vulva!

Einst verehrt, dann auf ein Loch ­reduziert und für den Wahnsinn dieser Welt verantwortlich gemacht, sind nun alle Blicke auf mich gerichtet. Sie sind verwirrt? Ich auch. Lassen Sie mich 
also etwas Licht ins Dunkel bringen.
Publiziert: 10.08.2019 um 11:36 Uhr
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Aktualisiert: 12.08.2019 um 10:44 Uhr
Alexandra Fitz

Meine Damen und Herren, darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Vulva. Bleiben Sie hier, gehen Sie nicht weg, ich gehöre doch zu Ihnen. Also zumindest zur Hälfte der Menschheit. Bin da schön eingebettet zwischen den Beinen. Und von der anderen Hälfte verkehrt eine Mehrheit ziemlich oft mit mir. Wobei. Eigentlich existiert die gesamte Menschheit durch mich. Durch – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin der Ursprung der Welt.

Vulva, das sind die äusseren weiblichen ­Geschlechtsorgane. Das Ensemble aus Venushügel, inneren und äusseren Schamlippen, Klitoris. Ich bin das, was Sie sehen – aber über das Sie so selten sprechen. Ich bin keine Vagina und ich bin keine Scheide – das ist das schlauchförmige Organ, die Verbindung zwischen Gebärmutter und dem äusseren Geschlechtsteil. Das Sie eben nicht sehen. Für Ärzte – männliche Ärzte –, die sich den Begriff Scheide (lat. vagina) ausdachten, schien klar: Es ist das unvermeid­liche Schicksal der Vagina, von ­einem Penis durchdrungen zu werden. Das Schwert gehört in die Scheide; die Vagina ist lediglich ­Behälter. Behälter für den Penis.

Vagina und Scheide klingt doch eh viel zu medizinisch. Möse oder Muschi? Salopp. ­Abwertend auch. Ernüchtert sagt man dann, «das da unten» oder «zwischen den Beinen». Dabei ist es so einfach: Vulva. Vulva. Vulva. Aber nein. Man bezeichnet mich als Scham. Schamhügel, Schamlippen, Schamhaare. Kein Wunder bin ich schambehaftet.

Jahrhunderte wurde sie totgeschwiegen. Jetzt wird endlich über sie geredet. Es lebe die Vulva! «Vertical Smile» von Sophia Weisstub.
Foto: Sophia Weisstub
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Frauen würden nie sagen, dass ich schön bin

Und ein Schimpfwort. Fotze im Deutschen. Con im Französischen – das Vollidiot und gleichzeitig das weibliche Geschlecht meint. Cunt im Englischen ist ein Arschloch und – eine Möse. Auch Pussy ist demütigend, und gleichzeitig eine schlimme Erniedrigung für den Mann. Den schimpft natürlich niemand: «Du, Penis, du!» Schlappschwanz ist wohl das einzige Wort, das das männliche Genital ­negativ auslegt. Ansonsten wird fluchend stets die Würde der Frau angegriffen.

Wenn es für etwas keinen ­Begriff gibt und es im kollektiven Sprach­gebrauch nicht vorkommt – wie ich zum Beispiel – wird die komplette Existenz negiert. Das heisst also, Sie müssen ganz viel über mich und von mir sprechen, damit ich sichtbar werde: Vulva! Vulva! Vulva!

Für mich ist es schwer vorstellbar, dass ich zu jemandem gehöre, der mich gar nicht kennt. Der gar nicht richtig weiss, wie ich aussehe. Während Jungen schon viel eher mit ­ihrem Geschlechtsteil herumspielen und es vergleichen, bleibe ich oft ­unberührt. Und alleine zurück. ­Männer haben eine innige Beziehung zu ihrem Penis. Frauen würden nie ­sagen, dass ich schön bin. Es gibt sogar einen sogenannten Oral Sex Gap. Frauen befriedigen Männer ­öfters oral als umgekehrt – und das, obwohl sie gleichermassen darauf stehen. Der Grund? Einerseits soziale Normen, die männliche Lust priorisieren, andererseits fühlen sich Frauen nicht wohl, schämen sich für ihre Vulva – für mich! –, fragen sich: Sehe ich da normal aus? Was denkt er? Riecht es gut?

Nicht immer wurde ich verschwiegen

Ich will nicht sagen, dass früher alles besser war. Aber zumindest gab es eine Zeit, in der das weibliche ­Geschlecht nicht versteckt wurde. Im Gegenteil! Lassen Sie mich die Geschichte von Demeter, der griechischen Fruchtbarkeitsgöttin, erzählen: Demeters Tochter wurde in die Unterwelt verschleppt. Demeter war so traurig, dass um sie herum alle Pflanzen starben. Eine Hungersnot drohte. Dann taucht Baubo auf, ein altes Mütterchen, das Demeter aufmuntert. Wissen Sie wie? Baubo entblösste ihre Vulva! Die Hungersnot war abgewendet. Eine Vulva, die ­Leben rettet! Auf der ganzen Welt gibt es Figuren von Frauen, die ihre Beine spreizen und ihre Vulva entblössen. Ja, die weibliche Frucht­barkeit hatte in längst vergangenen Tagen einen hohen Stellenwert.

Nun schreiben wir das Jahr 2019. Und Frauen kämpfen für ihr sexuelles Selbstbewusstsein. «Schaut euch eure Vulven an! Zieht euch aus, setzt euch vor einen Spiegel, spreizt die Beine und schaut euch das da unten an», ­rufen Feministinnen.

Klar gab es die 68er. Ich war Thema in der sexuellen Revolution. Nacktheit war plötzlich in Ordnung. Der sexuelle Befreiungsschlag «Antibabypille» entkoppelte die Lust von der Fortpflanzung. Performances wie «Aktions­hose: Genitalpanik» und die «Vagina-Monologe» zerrten das weibliche Geschlecht in die Mitte. Bei Ersterem stellte mich Valie Export, Pionierin der feministischen Kunst, zur Schau: Mit zerzauster Mähne, Lederjacke, einer Maschinen­pistole in der Hand sass sie breit­beinig auf ­einem Stuhl. Die Hose im Schritt ­offen – freie Sicht auf mich. Okay, es waren die 68er: Haare verdeckten mich ein wenig.

Die berühmten «Vagina-Monologe» sind ein Theaterstück der feministischen Aktivistin Eve Ensler aus dem Jahr 1996, in dem wütende, verletzte, mutige und befriedigte Vaginen vorkommen – ein Stück, das immer wieder aufgeführt wird, letzten Februar in Zürich. «Wenn deine Vagina sprechen könnte, was würde sie sagen?», heisst es darin. «Nenn mich Vulva, nenn mich Vulva», würde sie rufen!
Aber mir geht es nicht darum.

«Viva la Vulva»-Plakate am Frauenstreik

Ich will über das Jahr 2019 sprechen. Ein Jahr mit einer Mission: Vulven sichtbar machen, Vulven ­feiern! Es ist längst überfällig. Die #MeToo-­Bewegung habe die Schleusen geöffnet, sagt Florence Schechter, die derzeit in England Geld sammelt für ein Vulva-Museum. Das ­erste überhaupt.

Tausend Jahre schwanzgesteuerte ­Missstände wiedergutzumachen versuchen gerade auch viele Bücher, die von mir ­handeln. Die Deutsche Mithu M. Sanyal beispielsweise schreibt über die Kultur­geschichte des unsichtbaren Geschlechts. ­Promoviert mit der Möse. Oder die Schwedin Liv Strömquist. ­Informativ, und vor allem über­dimensional witzig analysiert sie in ihrem Comic «Der Ursprung der Welt», wie ich kul­turell konstruiert wurde. Sie geht der Frage nach: Warum verbindet die Menschheit eine so ­unentspannte, borderline-mässige Hassliebe mit mir? ­Wissenschaftlich nehmen mich zwei junge Medizinerinnen aus Norwegen ­unter die Lupe. «Viva la Vagina» heisst ihr Buch. Und ist ein Bestseller!

Ich trete in Musikvideos (etwa bei Janelle Monáe, «Pynk») als V-förmige Plusterhose auf, in denen Selbstliebe, Sexualität und Pussy Power besungen werden. Am ­Frauenstreik in der Schweiz wurden über­dimensionale Klitoris durch die Strassen getragen, und Frauen schrieben «Viva la Vulva» auf Pappkartons, die sie stolz in die Höhe ­hoben. Eine junge Wienerin macht Gipsabdrücke von Vulven. Sie hat schon Hunderte weisse Gips-Vulven angefertigt.Fall Sie sich nicht schon vor den Spiegel gesetzt haben, bitte, schauen Sie sich – auch Männer – die Gipsabdrücke an. Sie werden sehen: Es gibt mich nicht in «ideal». Die ­äusseren Schamlippen sind mal klein, mal grösser, mal geschlossen wie ein Cocoon, mal gespreizt wie ein Schmetterling – ich sehe immer anders aus, aber immer schön.

Intimchirurgische Eingriffe liegen im Trend

Ist Ihnen aber schon mal aufgefallen, wie ich in der Pornografie aus­sehe? Klein und kompakt. Immer. Da steht nichts raus, da ist alles umschlossen, muschelartig. Tja, herz­lichen Dank, Pornoindustrie, dass du mich so vollkommen zeigst. So vollkommen falsch! In der Dokumen­tation «Vulva 3.0 – zwischen Tabu und Tuning» – auch ein Beitrag der neuen Sichtbarkeit des weiblichen Geschlechts – wird ein Fotograf und Bildbearbeiter gezeigt. Der Typ sitzt vor einem Bildschirm und entfernt mit der «Radierstift-Funktion» von Photoshop meine – Zitat – «Lappen» und schiebt – Zitat – «es» näher zusammen, weil er findet, so müsse – Zitat – «das da» aussehen. So werde ich in meinem Äusseren beschnitten, während dieser Schlappschwanz (sorry, ich konnte es mir nicht verkneifen!) mit grosser Wahrscheinlichkeit auch keinen Ideal-Penis – würde es denn einen geben – in seiner Hose hat.

Dieser Mann und die Industrie, für die er arbeitet, sind schuld, dass Frauen denken, sie seien untenrum nicht schön. Und so hat auch die Schönheitschirurgie ein neues ­Aufgabengebiet: die Optimierung der Vulva. Die Nachfrage nach Schamlippenkorrekturen nimmt stark zu. Der SonntagsBlick berichtete. Während beim Mann also gilt: Je grösser desto besser, muss bei mir alles piekfeinklein sein.
Dass man an mir herumschnipselt, ist allerdings nicht neu. Blicken wir ein, zwei Jahrhunderte zurück. Da war ich den Menschen gar nicht geheuer. Also vor ­allem den Ärzten nicht oder waren es eher Quacksalber? Sie machten mich für eine Menge verantwortlich, dichteten mir einiges an.

Das weibliche Geschlecht war ein Problem – für die Näbber

Da gab es etwa den Arzt John Harvey Kellogg (1852 bis 1943). Der erfand nicht bloss die vermeintlich gesunden Cornflakes, er wollte Frauen auch davon abhalten, ihr Geschlecht anzufassen. Masturbation verursache gesundheitliche Probleme. Feministin Strömquist fasst es in ihrem Comic so zusammen: ­«Warum habe ich Krebs? Zu viel Klitoris-Stimulation. Warum bin ich wahnsinnig? Zu viel Klitoris-Stimulation.» Herrn Kelloggs Lösung: Karbolsäure auf die Klitoris. Ähm, wissen Sie, was das bedeutet? Verätzen wollte er mich!

Andere Berufskollegen glaubten zu wissen, dass man die Klitoris am besten komplett ­entfernen sollte. Klitoridektomie. Bis ins 20. Jahrhundert wurde sie noch als Behandlung der als pervers betrachteten Selbstbefriedigung und der weiblichen Hysterie empfohlen. In der rituellen Praxis nennt man das «weibliche Genitalverstümmelung» – sie wird seit ­Jahrtausenden durchgeführt, vor allem in ­Afrika und im Nahen Osten. Abgeschnitten, ­verteufelt oder ignoriert. Schliesslich braucht man die Klit nicht für die Brut.

Wussten Sie, dass erst 1998 entdeckt wurde, wie die Klitoris in Wirklichkeit aussieht? Das kleine Knöpfchen – das früher auch mal als Teufelsmahl von Hexen gesehen wurde, als Zitze, die den Teufel und seine Kumpane nährt – ist bloss die Spitze des Eisbergs. Die Klitoris ist sieben bis zehn Zentimeter lang, sie besteht aus zwei Schenkeln, auch Schwellkörper genannt. Dieser schwillt bei der Stimulation an. Rund 8000 Nerven besitzt der Kitzler.

Das hielt die christkonservative Stiftung Zukunft CH letztes Jahr nicht davon ab, in ­ihrem Lehrmittel für Sexualkunde bei der ­Darstellung des weiblichen Körpers die Klitoris komplett zu ignorieren. Und das 2018!

Einen Penis kann jeder zeichnen

Ignorant war auch so ein Psychoanalytiker, der vor mehr als 100 Jahren etwas von klitoralem und von vaginalem Orgasmus schwafelt. Ersteren wertet er ab als unreifen Orgasmus. Richtig sei bloss der vaginale. Danke dafür, Freud! Zum Glück weiss man heute, dass die Schenkel der Klitoris auch in die Vagina ­hineinragen und die Klitoris auch von innen stimuliert wird. Die Unterscheidung ist Schwachsinn und führt dazu, dass Frauen sich Sorgen machen, weil sie vaginal nicht kommen.
Von meiner Existenz wissen sollen auch Ausserirdische nichts – falls es sie denn gibt. Das ist kein Witz. 1972 schickte die Nasa eine Aluminium-Plakette mit der Raumsonde Pioneer mit ins Weltall. Eine Art ­Flaschenpost, falls man auf ausser­irdisches Leben träfe. Auf der Plakette sind ein Mann und eine Frau abgebildet. Der Mann mit Penis und ­Hoden. Klar. Die Frau hat nicht mal einen Schlitz. Nix.

Kulturhistorikerin Sanyal schreibt, dass das weibliche Geschlecht oft als Leerstelle gesehen wurde, als etwas Fehlendes. «Ein Loch, in das ein Mann seinen Penis stecken kann.» (Sie erinnern sich: Scheide! Schwert!) Eine Frau also ist ein Mann ohne Penis. Schon sind wir wieder bei Freud – und seinem Penisneid. Der Penis galt als «Normalfall», das weibliche Geschlecht als abweichend. Weibliche Sexua­lität wurde immer in Beziehung zur männlichen gesetzt. Erst war es die schlechtere Version davon, dann ein Gegensatz, aber nie eigenständig.

Konkurrenz für den Schöpfer

Aber woher kommt das alles? Von den männlichen Ärzten einerseits, Sie haben es gelesen. Aber auch von der Religion, sagen kluge Frauen wie Sanyal. Denn dieses Organ symbolisiert die Schöpfung per se und steht somit in direkter Konkurrenz zu Gott. Dem ultimativen Schöpfer, er, der alleine fähig ist, Leben zu schaffen. Durch das Wort. Nicht durch die Vulva. Ein Machtkampf.

Nun: Ich nehme den Kampf auf. Ich fordere meinen Platz ein. Die Vulva-Welle wird so schnell nicht ­abflachen. Gerade soll das Wort Schamlippen aus dem Duden verbannt und durch das Wort Vulva­lippen ersetzt werden. Die Debatte über Vulven wird anhalten. Und im Kern geht es darum: Ich bin schön, bringe Leben und bin die Lust. Das alles ist gut. Sehr gut sogar! Vulva! Vulva! Vulva!

Und falls Sie finden, ich über­treibe, malen Sie mich doch mal! Sie können bestimmt einen Penis ­zeichnen. Aber mich? – Die Vulva.»

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