Sexpertin Dr. Ruth (90) im Interview
«Männer, habt am Morgen Sex und nicht abends»

Die Deutsch-Amerikanerin Ruth Westheimer (90) ist seit ihren TV-Auftritten die bekannteste Sex-Therapeutin der Welt. Dr. Ruth kennt nur ein Tabu: den eigenen Sex.
Publiziert: 25.07.2018 um 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 18:16 Uhr
Ruth Westheimer (90) ist die bekannteste Sex-Therapeutin der Welt.
Foto: RICK LOOMIS / NYT
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Daniel Arnet

Dr. Ruth, let’s talk about sex!
Ruth Westheimer: Sehr gerne. Was ist Ihre erste Frage?

Reden Sie wirklich noch gerne über Sex, bald 40 Jahre nach Ihrer ersten Radio-Talkshow?
Ja, das ist immer noch sehr befriedigend und interessant, weil ich noch im hohen Alter neue Sachen besprechen kann.

Zum Beispiel?
Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass man bis ins hohe Alter sexuell aktiv sein kann. Wichtig für Männer: Sex nicht am Abend, wenn sie müde sind, sondern morgens, wenn der Testosteronspiegel am höchsten ist.

Wie hat sich das Reden über Sex in den letzten Jahrzehnten verändert?
Man spricht heute viel offener über das Thema, weil man viel mehr weiss.

Braucht es also keine Aufklärung mehr?
Doch, man muss immer weiter lernen. Wenn sich die Menschen heute übers Internet treffen, müssen sie immer das Risiko der Geschlechtskrankheiten berücksichtigen. Viele sind bezüglich Syphilis und Aids zu unbekümmert, weil sie denken, es gebe ja Medizin.

Kürzlich verkündete das Fachmagazin «The Lancet» vielversprechende Fortschritte von Harvard-Forschern bei der Entwicklung eines HIV-Impfstoffes.
Das ist eine trügerische Sicherheit.

Hat Sie schon jemand mit einer Frage sprachlos gemacht?
Sprachlos nicht, aber manchmal wusste ich die Antwort nicht. Dann habe ich bei der Beratung im Radio oder im Fernsehen gesagt, dass ich mich kundig machen müsse und in der nächsten Sendung wieder darauf zu sprechen komme.

Gibt es noch Tabuthemen?
Eigentlich nicht, vielleicht noch Inzest. Aber etwa über Vergewaltigung kann man heute sehr gut reden, wenn man das wissenschaftlich ernst angeht.

Ich kenne ein Tabuthema von Ihnen: Ihr eigenes Sexualleben. Warum reden Menschen – nicht nur Sie – lieber über den Sex ­anderer als über den eigenen?
Ich bin sehr dafür, dass man die eigene Sexualität nicht offenlegt, weil man es danach bereut. Warum habe ich das ausgeplaudert? Das geht niemanden ausserhalb einer Beziehung etwas an.

Aber die Ratsuchenden in Ihren Sendungen erzählen ja gerade von ihrer eigenen Sexualität.
Ich habe deshalb in meinen zehn Jahren Radioberatung und den vielen TV-Sendungen die Anrufer nie nach ihrem Nachnamen gefragt. Ich sagte immer: Ihr müsst nicht sagen «ich habe eine Frage», sondern «ein Freund von mir will wissen …». ­Diese Regeln habe ich immer eingehalten.

Sie sind eben 90 geworden und machen immer noch Beratungen.
Ja, in den USA habe ich gerade eine neue TV-Sendung bekommen, die im August aufgezeichnet wird. Ich mache die Sendung zusammen mit einem 30-jährigen Beziehungsexperten, denn ich werde viel über Beziehungen und nicht bloss über Sex sprechen.

Welches Thema beschäftigt Ratsuchende zurzeit am meisten?
Die Einsamkeit. Das ist ein grosses Problem – nicht nur in Amerika, sondern auch in der Schweiz. Die Menschen vergessen, wie wichtig es ist, zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen. Und das ist letztlich die Voraussetzung für Sex.

Ist die Vereinsamung ein Phänomen des digitalen Zeitalters?
Ja, wegen der neuen Medien verlernt man die Kunst des Gesprächs – das ist eine Katastrophe. In einem Restaurant sieht man immer wieder, wie die Leute auf ihre Handys starren, anstatt miteinander zu sprechen. Das wird immer schlimmer, weil das wie eine Sucht ist. Das schadet der zwischenmenschlichen Beziehung.

Was raten Sie?
Das Handy ausschalten. Die Welt geht nicht unter, wenn man eine Stunde lang nicht erreichbar ist.

Reden ja, aber bitte keine ­Grundsatzaussprache bei Sexproblemen – das ist Ihr Credo.
Genau, weil das Ungesagte, die Fantasie, ebenso wichtig ist.

Müssen beide Sexualpartner die gleiche Fantasie haben?
Nein, sie brauchen die Fantasie nicht zu teilen – das gilt für Homo- wie Heterosexuelle. Aber wenn sie die Fantasie gerne teilen, dann viel Vergnügen! Wenn nicht: Einfach den Mund halten. Und nicht sagen: «Jetzt bin ich gedanklich mit meinem Nachbarn im Bett.»

Wie kann man die Fantasie beflügeln?
Indem man alle möglichen erotischen Geschichten liest, zum Beispiel «50 Shades of Grey».

Hilft Alkohol?
Ein Glas Wein hilft sicher. Wenn aber jemand betrunken ist, soll er schlafen gehen und keinen Sex versuchen.

Sie haben ja mit Dr. Ruth’s Vin d’amour eine eigene ­Weinkreation. Läuft sie gut?
Nein, die läuft ganz schlecht, weil sie zu süss ist. Das war ein interessantes Experiment, aber die Linie ist eingeschlafen.

Sind Pornos ein legitimes Mittel, um die Fantasie anzuspornen?
Absolut, aber das gehört nur in die Hände von Erwachsenen. Und man muss sich immer bewusst bleiben: Pornografie ist keine Realität. Es gibt in der Wirklichkeit keinen Mann, der über Stunden eine Erektion hat. Und die meisten Männer haben keinen Penis wie ein Pornodarsteller. Aber das ist kein Grund zur Traurigkeit: Jeder Mann soll sich daran erfreuen, was er hat.

Wie verändert das Internet mit der immer und überall verfügbaren Pornografie das Sexualleben?
Das ist besonders für Minderjährige tragisch, weil sie dann die Vorstellung haben, Sex müsse so sein wie in der Pornografie.

Und wie beeinflusst die #MeToo-Debatte die Beziehungen von ­Sexualpartnern?
Was jetzt innerhalb dieser Debatte passiert, ist schlimm – das hat sich ins Groteske bewegt, da hat man übertrieben. Ich spreche nicht von Vergewaltigungen – die muss man bestrafen, keine Frage.

Sind Männer nun gehemmter?
Genau. Denn jetzt wissen Männer nicht mehr, ob sie einer Mitarbeiterin sagen dürfen: «Du hast ein schönes Kleid an.»

Seit dem 1. Juli gilt in Schweden ein Gesetz, wonach beide Sexualpartner zuerst ihr Einverständnis für den Akt abgeben müssen. Was sagen Sie dazu?
Das ist Quatsch. Das nimmt die ganze Romantik aus der sexuellen Beziehung. Was muss er unterschreiben? Jetzt darfst du meine linke Brust berühren, jetzt meine rechte? Jetzt den Nabel küssen? Schrecklich!

Schrecklich, weil guter Sex nicht berechenbar ist und von der Spontaneität lebt?Genau. Man muss zum Gegenüber Vertrauen haben. Wenn man das gesetzlich regelt, dann ist das furchtbar.

Ist zumindest Hetero-Sex nicht immer ein Gewaltakt, ein Übergriff des stärkeren Mannes auf die schwächere Frau?
Nicht nach meiner Überzeugung: Wenn sich die beiden lieben und ein genügend langes Vorspiel stattfindet, dann ist das kein Gewaltakt.

Ist Liebe eine Voraussetzung für guten Sex?
Der beste Sex entsteht, wenn sich beide Sexualpartner gerne haben. Aber ich sage auch, dass es möglich ist, eine sexuelle Beziehung zu haben, ohne sich richtig zu mögen. Nur hält das nicht auf die Dauer.

Sie plädieren stets für neue ­Positionen. Kann Sex dadurch nicht anstrengend sein und zu ­einer Turnübung verkommen?
Doch, aber was ist falsch am Turnen? Neue Positionen sorgen dafür, dass im Bett keine Routine und Langeweile aufkommt. Das Problem höre ich nämlich häufig.

Ist das indische «Kamasutra»-Buch heute noch ein taugliches Vorbild für Sex-Stellungen?
Es gibt wenige Menschen, welche die beschriebenen Yoga-Stellungen ausführen können. Wer das nicht schafft, soll aber nicht meinen, er habe weniger guten Sex. Es soll niemand zu einer Position gezwungen werden, die ihm nicht passt.

Von Karola Siegel zu «Dr. Ruth»

Ruth Westheimer kommt am 4. Juni 1928 als Karola Siegel in Karlstadt nahe Würzburg (D) zur Welt. Die jüdischen Eltern schicken das Einzelkind 1938 mit einem Sonderzug in die Schweiz, wo das Mädchen in einem Kinderheim in Heiden AR den Zweiten Weltkrieg überlebt. Mit 17 geht sie nach Palästina, studiert später an der Pariser Sorbonne Psychologie und erhält an der New Yorker Columbia University den Doktortitel in Soziologie.
1957 heiratet sie Manfred Westheimer (1927–1997) und hat mit ihm zwei Kinder. 1980 beginnt Dr. Ruth mit der Radio-Kolumne «Sexually Speaking» und moderiert bis heute gegen 500 TV-Sendungen.

Ruth Westheimer kommt am 4. Juni 1928 als Karola Siegel in Karlstadt nahe Würzburg (D) zur Welt. Die jüdischen Eltern schicken das Einzelkind 1938 mit einem Sonderzug in die Schweiz, wo das Mädchen in einem Kinderheim in Heiden AR den Zweiten Weltkrieg überlebt. Mit 17 geht sie nach Palästina, studiert später an der Pariser Sorbonne Psychologie und erhält an der New Yorker Columbia University den Doktortitel in Soziologie.
1957 heiratet sie Manfred Westheimer (1927–1997) und hat mit ihm zwei Kinder. 1980 beginnt Dr. Ruth mit der Radio-Kolumne «Sexually Speaking» und moderiert bis heute gegen 500 TV-Sendungen.

Mehr

Das «Kamasutra» aus dem 2. Jahrhundert ist sehr freizügig. War die Menschheit früher ­enthemmter als heute?
Glaube ich nicht.

Sie haben bis heute 44 Bücher zum Thema geschrieben. Mit welchem haben Sie am meisten bewirkt?
Ich denke, mit «Sex für Dummies» – das liegt in 26 Übersetzungen vor. Das ist auch in der deutschen Ausgabe mein meistgelesenes Buch.

Sie gelten als die bekannteste Sexualtherapeutin der Welt. Sind Sie auch die erfolgreichste?
Was den Verdienst anbelangt? Da gibt es vielleicht Fachkolleginnen und -kollegen, die mehr verdienen.

Wie vielen Paaren haben Sie geholfen?
Tausenden. Tagtäglich, wenn ich in New York an eine Feier, in ein Theater oder sonst wo hingehe, finde ich immer jemanden, der sagt: «Als ich jünger war, haben Sie mir sehr geholfen.» Das freut mich sehr.

Für wie viele Babys sind Sie ­verantwortlich?
Für viele. Denn die meisten Menschen – nicht alle – haben Sex, weil sie Kinder haben wollen. Mit meiner jüdischen Biografie hätte ich mein Leben nicht ohne meinen Sohn und meine Tochter verbringen wollen. Und jetzt habe ich vier herrliche Enkel – zwei Jungs und zwei Mädchen.

Haben Sie die alle sexuell ­aufgeklärt?
Absolutely not! Das habe ich den Eltern überlassen.

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