Psychoanalytiker Schmidbauer über die Bürde der Erstgeborenen
He, ich war zuerst da!

Wolfgang Schmidbauer, renommierter Psychoanalytiker, beleuchtet in seinem neuen Buch die Herausforderungen und Privilegien von Erstgeborenen. Er zeigt, wie die Geburt eines Geschwisters die Familienstruktur beeinflusst, und fordert mehr Gerechtigkeit in der Erziehung.
Publiziert: 14.09.2024 um 17:05 Uhr
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Aktualisiert: 19.09.2024 um 09:36 Uhr

Auf einen Blick

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Alexandra FitzCo-Ressortleiterin Gesellschaft

«Als meine Mutter geboren worden war, legte die jetzt grosse Schwester Maria an einem regnerischen Tag das Vorschneidemesser aus der Küche hinaus auf den Balkon. Nach dem Sinn dieser Massnahme befragt, sagte die Vierjährige: ‹Wenn das Messer nass ist, wird es rosten. Und wenn es rostig ist, schneide ich damit das Bobbele (fränkisch für Baby). Dann kriegt das Bobbele Blutvergiftung und stirbt!›»

Diese Geschichte trug sich im Jahr 1913 zu. Erzählt wird sie von Wolfgang Schmidbauer. 83 Jahre alt und einer der renommiertesten Psychoanalytiker Deutschlands. Letzte Woche erschien sein Buch «Die Erstgeborenen. Wie sie ihre Kindheit den Geschwistern opfern». Die vierjährige Maria ist vif, man könnte das als Intelligenzbeweis deuten; die Eltern empfanden dies nachvollziehbarerweise anders. Maria wurde mit Schlägen bestraft.

Die Geschichte zeigt – auch wenn etwas drastisch –, was in Kinderköpfen vorgehen kann, wenn ein zweites Geschwisterchen zur Familie stösst. Als «Krise» bezeichnet Schmidbauer die Ankunft eines Babys in das bestehende Familiengefüge: «Die Erstgeborenen können der Mutter auf einer unbewussten Ebene nicht verzeihen, dass sie das zweite Kind geboren hat und womöglich mehr liebt.»

Wolfgang Schmidbauer sagt, Erstgeborene seien fundamental unterschiedlich als die anderen Geschwister. «Wenn wir uns diese Unterschiede vergegenwärtigen, werden wir vergangene wie aktuelle Konflikte besser verstehen.»
Foto: zvg
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Das erstgeborene Kind fühlt sich vom Thron gestossen, muss plötzlich vernünftig sein und mit weniger Aufmerksamkeit auskommen. Die Eltern müssen ständig auf der Hut sein, weil das Erstgeborene den Neuling in der einen Sekunde herzt und ihn in der anderen vielleicht zu beseitigen versucht.

Was Erstgeborene fordern

Erstgeborene haben es per se nicht schwerer im Leben, sagt Schmidbauer. Aber sie haben ein paar spezifische Schwierigkeiten:

  • Sie müssen viele Aggressionen unterdrücken, weil die Zeit von der ungeteilten Aufmerksamkeit vorbei ist.
  • Sie müssen früh viel Verantwortung übernehmen, nachgeben und teilen. Sätze wie «Du musst vernünftig sein, du bist der Grössere», verwenden alle Eltern.
  • Sie wachsen als Kritiker der Eltern heran.
  • Sie sind die Vertreter der Familienwerte – und fordern diese vehement ein.
  • Sie haben zwar eine herausgehobene Rolle, aber diese setzt sie auch unter Druck.

Schmidbauer plädiert keineswegs für Einzelkinder. Denn bei allen Konflikten unter Geschwistern sage er in seinen Therapiestunden auch immer etwas humorvoll: «Geschwister sind schrecklich; keine haben ist schlimmer.» Er zeigt in seinem Buch auf, dass es fundamentale Unterschiede zwischen Erstgeborenen und allen anderen Geschwisterpositionen gibt. «Wenn wir uns diese vergegenwärtigen, werden wir vergangene wie aktuelle Konflikte besser verstehen.» Schmidbauer fordert dazu auf, dass wir uns dieser – oft unbewussten – Dynamiken besser bewusst werden.

«Eltern sollten sich bemühen, gerecht zu sein», sagt Schmidbauer. Kinder hätten sehr früh ein klares Gefühl für Gerechtigkeit. Der Psychologe rät deshalb ab von Sätzen à la: «Du musst vernünftig sein, du bist der Grössere.» Oder: «Lass es doch zu, dass deine Schwester dir das Spielzeug wegnimmt, sie weiss es nicht besser.» Man solle Kindern vermitteln, dass beide vernünftig sein sollen, sich beide einigen müssen. Alles andere erlebe ein erstgeborenes Kind als Kränkung.

Geschwister sollten über ihre Rollen sprechen

Auch Geschwister untereinander können sich über ihre jeweiligen Rollen austauschen. Schmidbauer: «Man sollte über diese Ambivalenz nachdenken und sich austauschen und nicht wertend sagen: ‹Du hast es gut gehabt, und ich habe es schlecht gehabt.›» Aber natürlich braucht eine gemeinsame Reflexion über eine Beziehung günstige Bedingungen.

Bei Schmidbauer und seinem Bruder waren sie das nicht. Sein Bruder war nicht offen für solche Gespräche. Fünf Jahre nach seinem Tod veröffentlicht Schmidbauer nun dieses sehr persönliche Buch. «Ich verarbeite Trennungen von Menschen, die mir viel bedeutet haben, immer mit Schreiben», sagt Schmidbauer. So den Tod seiner Mutter («Die Kentaurin»), die Beziehung zu seiner ersten Frau («Die Seele des Psychologen») und nun die Geschwisterbeziehung.

Er verwebt seine persönliche Geschichte mit berühmten Geschwisterkonflikten und der gesellschaftlichen Entwicklung der Kleinfamilie. So schreibt er von den Brüdern Kain und Abel und deren Rivalitäten. Der ältere Bruder Kain, der erste Sohn von Adam und Eva, der seinen jüngeren Bruder Abel aus Eifersucht erschlug. Oder von Prinz Harry, der in seinem Buch namens «Spare» (deutsch: Reserve) über den bitteren Wettbewerb zwischen ihm und seinem Bruder klagt. William sei «geliebter Bruder» und «Erzfeind». Gefühle, die die meisten Geschwister kennen. Ein Leben zwischen Rivalität und Nähe.

Die Privilegien des erstgeborenen Kindes sind ambivalent

Erstgeborene haben auch Privilegien. «Das erste Kind hat grosse Bedeutung für die Eltern. Ihnen ist etwas Entscheidendes gelungen», sagt Schmidbauer. Auch beim erweiterten Familienkreis gilt das erste Kind als besonders. Schmidbauer relativiert diesen Bonus: Diese Privilegien seien ambivalent zu sehen. Denn diese herausgehobene Rolle setze Erstgeborene unter Druck.

Viele fühlen sich auch ein Leben lang verantwortlich gegenüber den Jüngeren. Das kann besserwisserisch sein, kontrollierend, aufopfernd oder einfach nur gut gemeint. Schmidbauer erzählt von seinen Töchtern, die untereinander ein besseres Verhältnis haben, als er und sein Bruder es hatten: «Ich beobachtete einen Streit. Meine jüngere Tochter hatte Rückenschmerzen, die ältere wollte, dass sie ins Yoga geht. Die Jüngere liess sich nicht überzeugen, die Ältere wollte nicht lockerlassen. Sie war sicher, wenn sie das richtig findet, muss die Jüngere das doch auch machen. Ich habe angefangen zu lachen und sagte: ‹Jetzt ist mal wieder die grosse Schwester aktiv.›»

Ob gross, klein oder mittendrin, jede Geschwisterrolle hat ihre Vorzüge und ihre Nachteile. Darüber nachzudenken und gewisse Situationen und Reaktionen zu hinterfragen, ist durchaus sinnvoll. Weil Geschwisterbeziehungen meist die dauerhaftesten im Leben sind – und weil sie prägen.

Schmidbauers Tante Maria, die das Bobbele töten wollte, belegt bis ins hohe Alter seine Annahmen über Erstgeborene – und mit ihrer Aussage als Vierjährige wollte sie sich bestimmt bloss vor ihren eigenen Aggressionen schützen. Denn eine Mörderin verrät sich doch nicht freiheraus.


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