Im Zug von Peking nach Moskau
Fahrt durch das Nirgendwo

Die längste Eisenbahnstrecke der Welt führt 9288 Kilometer durch unendliche Weiten von Moskau nach Asien. Comedian und Autor Helmi Sigg fuhr ein gutes Stück mit.
Publiziert: 27.07.2015 um 12:40 Uhr
|
Aktualisiert: 10.09.2018 um 15:38 Uhr
Die Symphonie der Räder und das Ächzen der Waggons geben den Rhythmus der Reise vor: Der Sonderzug «Zarengold» am Baikalsee.
Foto: Barbara Sigg, Roland E. Jung, Olaf Meinhardt/VISUM
1/18
Von Helmi Sigg

Die Reise beginnt lange vor dem Einsteigen. Hinter uns liegen 7981 Flugkilometer von Zürich nach Peking. Vor uns 7923 Zugkilometer von Peking nach Moskau. Genau genommen begann die Reise aber zu Hause auf dem Sofa. Der Mythos der Transsibirischen Eisenbahn, kurz Transsib, ist Benzin für die Fantasie. Für Schweizer, die die Welt im Kleinformat kennen, sind die Ausmasse geradezu atemberaubend: Die Gesamtstrecke führt 9288 Kilometer durch zehn Millionen Quadratkilometer Leere zwischen Moskau und Wladiwostok. Viel Platz für viele Träume. Wir holpern 16 Tage durch unterschiedlichste Kulturen, Städte, Wüsten, Steppen und unendliche Birkenwälder. Es ist auch eine Reise zu sich selbst.

In Peking fängt das lange Rumpeln an

Was tun, wenn man vor so vielen Erwartungen steht? Ganz einfach: Augen öffnen, Herzen aufschliessen, loslassen. Das Glück steht offenbar auf unserer Seite: In Peking verscheucht der Wind den lästigen Smog, die chinesische Hauptstadt präsentiert sich in voller Pracht. Das Vorspiel kann beginnen. In drei Tagen stemmen wir den Himmelstempel, die Chinesische Mauer, die Ming-Gräber, die Allee der Tiere, den Platz des himmlischen Friedens, die Verbotene Stadt – und eine Peking-Ente. Beim gemeinsamen Essen können sich die Mitreisenden zum ­ersten Mal etwas beschnuppern.

Zu unserer Reisegruppe gehören unter anderen ein Ärztepaar aus Deutschland, Marianne und Michael aus Wien, Uschi und Christina aus dem Kanton Baselland und Ruedi, ein SBB-Angestellter aus der Zentralschweiz. Nette Menschen. Wie wir jagen sie einem Lebenstraum nach: eine Reise durchs Nichts, nur die Schienen als Guides. Am Abend des dritten Tages kommen wir dem Objekt unserer Sehnsucht ein gutes Stück näher. Unsere Waggons stehen im Bahnhof von Peking bereit. Wir steigen ein.

Die Spurbreiten in China und Russland sind unterschiedlich. Darum können wir erst in der Mongolei auf den Transsibirien-Express umsteigen. Doch schon die Fahrt dorthin fühlt sich abenteuerlich an. Erste Schlafversuche scheitern. Mit geschlossenen Augen lauschen wir der Symphonie der Räder, dem Ächzen der Wagen, dem Rumpeln der Weichen, fühlen die komprimierte Luft, wenn ein anderer Zug uns kreuzt. Ein beruhigendes Schlaflied.

Der erste grosse Bahnhof: Wir sind in Erlian

Mit kleinen Äuglein starren wir am ersten Morgen nach der Abfahrt in senf- und ockerfarbene Steppe: die Wüste Gobi. Sie begleitet uns bis zum ersten Etappenziel, der Mongolei. In Erlian warten mongolische Chinesen mit blauen Schals auf uns. Sie begrüssen die Fremden mit Gesängen. Eine einheimische Fernseh-Equipe filmt das Spektakel, offenbar sind wir Langnasen für Mongolen noch immer exotisch.

Gleichentags der Grenzübertritt in die Mongolei. Er verläuft reibungslos. Dafür müssen wir kurz in einen Bus umsteigen. Dann, im Bahnhof von Zamiin Uud, steht er vor uns: der «Zarengold», unser Sonderzug. Adrette Grenzbeamtinnen in schicken Uniformen inspizieren den Zug. Also warten wir. Dann endlich beginnt die Reise richtig – oder von neuem.

Unsere Koje: 255 Zentimeter hoch, 190 Zentimeter tief, 182 Zentimeter breit. Und darin sollen nun zwei erwachsene Personen schlafen, lesen, fläzen – kurz: die nächsten langen Tage verbringen, ohne aneinanderzugeraten? Die Enge ­erteilt uns gleich die wichtigste Lektion: Hier ist Ordnung gefragt. Alles muss seinen Platz finden, so verstaut sein, dass man seine Siebensachen greifen kann, ohne sich und vor allem den anderen zu nerven. Ein Kunststück.

Unser russischer Reiseleiter Valeri stellt sich vor. Er wird uns bis Moskau begleiten. Ein hochintelligenter Mann mit viel Esprit, noch mehr Humor und vor allem mit Nerven aus Stahl. Eigenschaften, die beim Zusammenleben auf engstem Raum von Vorteil sind. Kabine, ein schmaler Gang, der Speisewagen – mehr gibt es nicht. Man kommt den anderen ganz schnell ganz nahe. Mit dickem Bauch besonders. Wie sich aber zeigen wird, fährt unser Zug unter einem glücklichen Stern. Kein Stress also.

Schnell machen sich die Mitreisenden bekannt. Man kommt ins Gespräch, knüpft Seilschaften. Die klassische Einstiegsfrage lautet: Weshalb bist du hier? Die meisten träumen von der schieren Weite, der menschenleeren Natur. Wenige sind «Pufferküsser», Eisenbahnfreaks. Unser SBB-Ruedi aus der Zentralschweiz gehört nicht dazu. Baslerin Uschi wollte die Reise eigentlich erst nach der Pension machen. «Dann aber entschloss ich mich, es schon mit sechzig zu wagen», sagt sie. «Man weiss ja nie, was später alles passiert.» Also häufte sie das erforderliche Geld zusammen und wollte sogleich den Weg unter die Räder nehmen.

Die grosse Ernüchterung: Einzelpersonen zahlen einen kräftigen Zuschlag. Uschis Traum schien zu platzen. Dann erzählte sie einer Arbeitskollegin und Freundin von der Misere – und die überlegte nicht lange. Nun sitzt Christina im Speisewagen neben Uschi. Und ist ebenso glücklich. In Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei, gingen die beiden einkaufen, denn Uschi ist passionierte Strickerin. Andere interessiert der Moloch aus Hochhäusern und Tempeln, die Baslerinnen hatten nur ein Ziel: die Kaschmir-Fabrik. Dort erstanden sie gleich ein paar Kilo der kostbaren Wolle, und die wird nun im ­«Zarengold» fleissig verstrickt.

Wir fahren vom Osten in den Westen. Viele Europäer wählen den umgekehrten Weg, so sparen sie sich die lange Anreise. Für unsere Mühen werden wir fast täglich belohnt: Wir bekommen auf dem Trip durch die Länder und Zeitzonen immer mal wieder eine Stunde geschenkt. Damit dauert das Vergnügen noch länger. Danke sehr.

Russlands grösste Banane ist ein See

Der Baikalsee rückt näher. Zwischen uns liegt nur noch der Halt in Ulan Ude, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Burjatien. Die Kinder dort feiern ihren letzten Schultag. Sie sind sorgfältig herausgeputzt und flanieren fröhlich durch die Stadt. Die Eltern fotografieren ihre Kleinen an jeder zweiten Ecke. Wir können ihnen die überschwängliche Freude nachfühlen: Auch sie stehen vor unendlich langen Ferien.

Wir rattern weiter, schlaufen uns in die Hauptroute der Transsibirischen Eisenbahn ein. Baikalsee, wir kommen! Valeri senkt seine Stimme: «Wir nähern uns dem ehemaligen Nadelöhr der Strecke, ihrer Schwachstelle.» Die ersten Reisenden mussten hier den Zug verlassen und mit einer Fähre übersetzen. Erst 1905 wurde die Lücke mit tauglichen Geleisen geschlossen. Diese werden heute nur noch von Sonderzügen befahren, die regulären Züge brausen längst woanders durch die Landschaft.

Nun liegt er vor uns, der Baikalsee, das grösste Süsswasserreservoir der Erde, mit einer Tiefe von über 1600 Metern und einer Bananen-Form wie der Zürichsee. Nur viel, viel grösser: 636 Kilometer lang, 26 bis 80 Kilometer breit.

Wir rumpeln auf dem alten Trassee das Ufer entlang. Im Dorf mit dem skurrilsten Namen der Welt stoppt der Lokführer. Wir sind in «Kilometer 110». Mitten im Niemandsland wird uns ein Picknick serviert. Ein Akkordeonist spielt «Katjuscha», «Kalinka» und andere Gassenhauer, der Schaschlik brutzelt auf dem Grill, und die einsetzende Kühle wird mit Wodka und Wein weggeschwemmt.

Unsere Zwischenbilanz: Das Leben ist schöner als der Traum. Mittlerweile sind neun Tage vergangen. Wir rollen durch die endlose Taiga, vorbei an Millionen von Birken. Wir haben uns an den Rhythmus gewöhnt, auch an jenen der Küche. Ab sieben Uhr morgens wird im Speisewagen Frühstück serviert, um 12.30 Uhr gibts Mittagessen, ab 19.30 Uhr Dinner. Spielraum bleibt kaum, die Köche stehen jedes Mal vor einem Kraftakt. Die Küche ist knapp vier mal zwei Meter gross. Die Gäste wollen trotzdem gut verpflegt werden. Und das werden sie. Mit Borschtsch, Pelmeni (gefüllte Teigtaschen), Kohlrouladen, Fisch, rotem Kaviar oder mit Boeuf Stroganoff. Alles frisch zubereitet.

Auch wenn zwischen uns und der Welt eine Fensterscheibe ist: Man kommt Land und Leuten erstaunlich nahe auf den vielen Ausflügen. In Irkutsk besuchen wir eine Familie in ihrer Datscha, einem typischen Wochenendhaus. Tatjana und Sergej begrüssen uns mit Salz und Brot, bemühen sich um die Gäste wie um ihre Liebsten, beantworten geduldig Fragen und zeigen, wie sie leben: mit wenig Geld und fleissigen Händen.

Dem Ziel entgegen: Moskau wartet

Bei Kilometerstein 1777 vor Jekaterinburg prallen Europa und Asien aufeinander. Wir stehen mit einem Bein in Asien, mit dem anderen bereits in Europa. Uns trennen noch zwei Tage vom Ziel, von Moskau. Und damit von unseren letzten Erkundungstouren. Wir besuchen den Kreml und den Roten Platz – und machen eine Lichterfahrt. Daran, an das Ende der Reise, mag am letzten Abend im Zug keiner denken. Wehmut kommt auf, wir lassen Revue passieren: Menschen, Städte und Weiten, denen wir begegnet sind. 7993 Kilometer Erinnerungen. Die Reise beginnt von neuem.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?