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Schluss mit Hippie-Feeling und Ferien-Flair
Mundart-Reggae ist jetzt cool

Einige der frischesten Sounds aus der Schweiz stammen diesen Sommer von Künstlern, die sich musikalisch von Jamaika inspirieren lassen. Mit Hippie-Feeling und Ferien-Flair hat das jedoch wenig zu tun.
Publiziert: 23.06.2019 um 11:04 Uhr
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Aktualisiert: 20.02.2021 um 17:04 Uhr
Stereo Luchs (37) aus Zürich schrieb seine neuen Songs während der Nebensaison in Süditalien. Karibische Rhythmen treffen bei ihm auf urbane Coolness.
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Jonas Dreyfus

Der Song beginnt wie das schleppende Quietschen eines rostigen Ventilators. Er heisst «Kei Schlaf» und stammt vom neuen Mini-Album «Off Season» von Stereo Luchs.

«Chlopf wenn du chlopfe wotsch, jederziit, a mini Tür. Sie wird off sii für dich, wird off sii für dich», singt der Zürcher schläfrig zu einem Rhythmus, der in den Tiefen wummert und in den Höhen zirpt.
Es ist ein Reggae-Beat, der so langsam vor sich hin plätschert, dass seine Synkopen fast auseinanderfallen.

Im Text könnte es um eine un­verbindliche «Amour fou» in einer verlassenen Stadt gehen, deren ­Bewohner grösstenteils in die Sommerferien verreist sind. «Suechendi Händ, durschtigi Lippe, fiebrigi Nächt», heisst es in einer Zeile. Das Geschehen bleibt schemenhaft.

Stereo Luchs’ letztes «richtiges» Album schaffte es 2017 direkt auf Platz acht der Schweizer Album-Charts, seine Konzerte sind regelmässig ausverkauft. Silvio Brunner, wie der 37-Jährige gebürtig heisst, gehört gerade zum Frischesten, was die Schweiz in Sachen Mundart-Pop zu bieten hat.

Er orientiert sich klar am Reggae – dem jamaikanischen Musikstil, den Bob Marley (1945–1981) auf der ganzen Welt populär machte. Doch mit den Songs des Altmeisters, der sich unter dem Slogan «One Love» für eine bessere Welt einsetzte, hat das nur noch wenig zu tun.

Windjacke statt Badehose, Erkältung statt Sonnenbrand

Stereo Luchs’ Sound ist melancholisch, städtisch, cool. Das Video zu «Kei Schlaf» hat er in der Neben­saison in Süditalien aufgenommen. Insel-Feeling mag da keines aufkommen. Auf Pressebildern trägt der introvertiert wirkende Typ mit der hellen Haut und den blauen ­Augen eine Windjacke. Es regnet.

Er glaube nicht, dass er besonders introvertiert sei, schreibt Stereo Luchs in einem E-Mail. Er hat sich irgendwo in einem Studio verschanzt und ist telefonisch nicht erreichbar. «Nachdenklichkeit ist nur eine Facette von mir als Mensch. Als Künstler interessieren mich aber schon eher die subtileren Storys.»

Wie viel hat das, was er macht, denn noch mit Reggae zu tun? Oder mit Dancehall, wie man die mit Rap vermischte Variante der Popmusik aus Jamaika nennt? ­Stereo Luchs: «Die Genre-Grenzen verschwimmen im Moment, was ich mir zunutze mache, um möglichst befreit von Schubladen ­Musik zu machen. Ob es Rap, R&B, Reggae oder Dancehall ist, spielt für mich gar keine grosse Rolle mehr. Textlich wiederum will ich Songs schreiben, die aus meiner Alltagswelt stammen.»

Ist Pronto der erste Schweizer Superstar seines Genres?

In den letzten zehn Jahren sei die Mundart-Reggae-Szene auf eine Handvoll Künstler geschrumpft, sagt Stereo Luchs. «Doch seit kurzem stossen extrem talentierte Leute hinzu. Zum Beispiel Pronto, der auf ‹Off Season› vertreten ist.»

Der 25-jährige Solothurner hat Wurzeln in Ghana. Das westafrikanische Land ist stark von jamaikanischer Musik beeinflusst. Stereo Luchs: «Auch er mischt Genres ohne jegliche Scheuklappen.»

Lukie Wyniger (41) nennt den neuen Song «Millions», den Stereo Luchs mit Pronto aufgenommen hat, die bisher beste Dancehall- Produktion der Schweiz. Der Basler moderiert seit fünf Jahren den ­«Reggae Special» auf SRF 3 und gilt als die Schweizer Instanz, wenn es um karibischen Sound geht.

Für eine Spezialausgabe seiner Radioshow reiste er jüngst nach ­Jamaika, wo er einige der grössten Reggae-Stars des Landes in ein Studio einlud. Dort improvisierten sie unter anderem zum Beat des Megahits «079» von Lo & Leduc. Das Duo aus Bern ist gerade der erfolgreichste Schweizer Act, der sich ­regelmässig karibischer Rhythmen bedient.

Bei Pronto geht Wyniger noch ­einen Schritt weiter: «Er hat für mich das Zeug zum ersten Schweizer Superstar seines Genres.»

Pronto entwickelte eine eigene Sprache

«Hä?», werden sich die meisten denken, die zum ersten Mal einen Pronto-Song hören. Senyo Mensah, wie er gebürtig heisst, hat eine ­eigene Sprache entwickelt, die sich im ersten Moment anhört wie US-amerikanischer Slang.

Wer versucht, den Inhalt des ­Genuschels zu verstehen, hört plötzlich Mundart. Gemixt mit englischen Begriffen, fügt sie sich zu Sätzen zusammen, die von viel Wortwitz zeugen.

«Mich stört es nicht, wenn mich Leute nicht verstehen», sagte ­Pronto in einem Interview mit dem deutschen Musikmagazin «Juice». Seine Fantasiesprache hat den positiven Effekt, dass Prontos Musik in Bern genauso gut funktioniert wie in Berlin.

«Seien wir ehrlich», sagte er im Rahmen einer Musikkonferenz in der deutschen Hauptstadt, «Schweizerdeutsch ist im Grunde eine Bauernsprache. Alle diese komischen Laute! Ich stelle die schweizerdeutschen Begriffe in Beziehung zu den englischen und biege alles ein bisschen zurecht, ­damit es sexy klingt.»

Gangster-Musik aus den Ghettos von Kingston

Härtere Formen des Reggae, an­gereichert mit Elektro-Beats und Rap-Gesang, haben in Jamaika eine lange Tradition. Dancehall ist ursprünglich Gangster-Musik aus den Ghettos der Hauptstadt Kingston mit allem Unangenehmen, was damit einhergeht: Sexismus, Homophobie, Gewaltverherrlichung.

Bis in die Schweiz ist dieser vertonte Lifestyle nicht vorgedrungen. Hier frönte man ab den 80er-Jahren dem klassischen Reggae – heute als Roots-Reggae bezeichnet –, der mit seinen spirituellen Idealen gut zur Ideologie der 68er-Generation passte.

Bob Marley war nicht nur Sänger, sondern auch Gitarrist. Das gefiel den Rock-Fans. Viele von ihnen treffen sich heute noch jährlich am Reeds Festival am Pfäffikersee, dem grössten Reggae-Festival der Schweiz.

In den 2000er-Jahren sorgten Musiker wie Gentleman aus Osnabrück oder die Berliner Band Seeed dafür, dass Reggae aus dem deutschsprachigen Raum heraus Erfolge feierte.

Der absolute Schweizer Star dieser Zeit war der Zürcher Phenomden, der sein letztes Album vor acht Jahren veröffentlichte. Seither war Reggae fast nur noch in einer Sun-fun-and-nothing-to-do-Variante in der Hitparade vertreten. Repräsentiert vom Zürcher Dodo, der sich mit Songs wie «Hippie-Bus» eine neue Hörerschaft im Kindergartenalter erschloss.

Eine neue Generation Popmusik-Konsumenten

«Heute interessiert sich bei uns eine neue Generation von Pop­musik-Konsumenten für Sound mit karibischen Einflüssen», sagt Lukie Wyniger, der neben seiner Tätigkeit als Moderator und Musik­redaktor im ganzen Land als DJ unterwegs ist.

Das liege daran, dass es Künstlern wie Stereo Luchs oder Pronto ge­linge, eine moderne Version von Mundart-Reggae zu machen, die nicht peinlich wirke. Es ist eine Generation, die mit Rap und Elektro aufgewachsen ist und keine Be­rührungsängste hat mit elektronisch verzerrten Stimmen, die in dieser Art von Musik zum Standard gehören. «Reggae ist definitiv auch bei den Jungen cool geworden.»

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