«Frau Holle arbeitet neuerdings nur Teilzeit»
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Autoren zum Schneemangel:«Frau Holle arbeitet neuerdings nur Teilzeit»

Schweizer Autorinnen und Autoren erinnern sich an Schnee
«Frau Holle arbeitet neuerdings nur Teilzeit»

Weiss vom Genfer- bis zum Bodensee – kommt das nur noch in Märchen vor? Das SonntagsBlick Magazin hat Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, einen Blick zurück und in die Zukunft zu werfen.
Publiziert: 22.02.2020 um 14:28 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2020 um 11:04 Uhr
Peter Stamm
Foto: Keystone
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Peter Stamm (57),
Schriftsteller («Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer-Verlag),
lebt in Winterthur ZH

Vor mehr als dreissig Jahren hatte ich einen Bürojob bei Swissair Technics. Aber ich hatte mich auch als Freiwilliger gemeldet, um Flugzeuge zu enteisen, wenn Not am Mann war. Jedes Mal, wenn die ersten Schneeflocken fielen, was schon damals viel zu selten geschah, wartete ich ungeduldig auf das Aufgebot, auf den Anruf, der mich von der langweiligen Büroarbeit befreien würde. Manchmal rief ich sogar selbst im Betriebsbüro an und fragte, ob ich kommen solle, ob ich kommen dürfe. Ich liebte es, zehn oder fünfzehn Meter hoch im schaukelnden Korb des Kranwagens zu stehen, je stärker es schneite desto besser, und mit einem Gemisch aus warmem Wasser und Glykol Schnee und Eis von den Tragflächen, dem Rumpf, den Höhenrudern zu spritzen. Ein Teil der Freude war wohl, von den Passagieren bei der Arbeit beobachtet zu werden, ein Teil, von den Ramparbeitern ernst genommen zu werden, für einmal kein Bürolist zu sein, sondern einer von ihnen. Vor allem aber liebte ich es, dem Wetter ausgesetzt zu sein, die Nässe des Schnees zu spüren, die Kälte des Windes, den süsslichen Geschmack des Glykols im Mund, den Geruch des Kerosins in der Nase, glücklich wie sonst selten in jenen Jahren.

Julia Weber (36),
Autorin («Immer ist alles schön», Limmat-Verlag),
lebt in Zürich

Wir sind in die Berge gefahren, mein Kind und ich. Es wollte ein Sibirischer Tiger sein. Als wir ankamen, schneite es, es fiel immer mehr Schnee in den bereits vorhandenen Schnee hinein. Es fielen dicke Flocken, wie im romantischen Weihnachtsfilm, auf uns herab, einen halben Tag lang und eine ganze Nacht, auch als wir schliefen. Es wuchs diese Schwere und Stille, wie sie nur mit Schnee wachsen kann, mit der Menge des Schnees, der sich hinlegt, vor uns, auf die Dächer, auf die Strassen, die Weiden, auf die Pferde auf den Weiden. Das Weiss und die Nacht dann in dunklem Dunkelblau. Schwerer und schwerer wurde die Welt, der Kopf, die Ruhe und der Schlaf so tief wie tief ins Meer hinein. Ich habe meine Tochter gesehen, wie sie am Morgen erwachte, wie sie aus dem Bett sprang und rief, es müsse jetzt in den Schnee gegangen werden. In ihrem Schlafanzug mit Fischen drauf sprang sie die Treppe hinab und rief, sie könne nun endlich der Sibirische Tiger sein, der sie immer sein wollte, der sie in Zürich aber nicht sein könne, denn was solle ein Sibirischer Tiger auch auf dem grauen Beton der Strassen und den grünen Wiesen des Parks? Das nütze alles nichts, da könne der Sibirische Tiger nicht wie ein richtiger Tiger sich bewegen, auf seinen Krallen durch den Schnee. Hier aber könne sie endlich der Tiger sein, der sie in Wahrheit immer gewesen sei. Und sie sprang im Schlafanzug in den Schnee hinein. Es sei kalt, rief sie, gerade so, wie es sein soll.

Schnee ist für Kinder Spielzeug, das vom Himmel fällt, dachte ich und trank Kaffee, und da war auch eine Traurigkeit, sie lag da, da draussen, mit meinem Kind im Schnee, das Kind, das keinen Fuss mehr aus dem Schnee nehmen wollte, stundenlang, auch die Hände nicht, nicht den Bauch und auch nicht das Gesicht.

Wir sind wieder zurück nach Zürich gefahren, meine Tochter und ich, wir sind aus dem Zug gestiegen am Hauptbahnhof, es regnete in den Regen hinein, und meine Tochter sagte, jetzt bin ich wieder eine ganz normale Hauskatze, jetzt lege ich mich aufs Sofa daheim und warte, bis der Frühling kommt und ich die Vögel hören kann.

Hansjörg Schertenleib (62),
Schriftsteller («Palast der Stille», Kampa-Verlag),
lebt abwechselnd auf Spruce Head Island (Maine, USA) und im Schweizer Mittelland

Es schneit, dicht und kräftig, als wolle die Natur vorführen, dass sie auch im Mittelland durchaus zu einem Schneetreiben imstande ist. Reglos stehe ich am offenen Fenster, staunend aus der Zeit gehoben. Nach wenigen Minuten ist der Zauber freilich bereits vorbei, der Schnee geht über in Regen, und das Licht bekommt diesen milchig-grauen Unton, der nicht nur bei mir vages Fernweh auslöst. Die Erklärung, «das liegt am Klimawandel», habe ich in letzter Zeit so oft gedacht und ausgesprochen, ich kann sie, so wahr sie ist, nicht mehr hören. Lieber träume ich mich aus der Gegenwart ins Reich der Erinnerung, es muss nicht bis in die Kindheit sein, es reicht, nach Maine zurückzureisen, an die Ostküste der USA, um noch einmal in einem Cottage mitten in den tiefsten Schnee hinein zu erwachen: Angekündigt hatte sich der Blizzard in der Abenddämmerung durch ein Seufzen des Windes, das zum Stöhnen und Brausen wurde und sich zum Brandungsdonnern steigerte. Die Temperatur fiel innert Minuten auf minus 16. Im strengen Frost krachten Stämme wie Schüsse von Gewehren. Am Morgen war die Gestalt der Landschaft verwandelt; zwei Schneewellen waren im Moment, in dem sie unweigerlich hätten brechen müssen, eingefroren und erstarrt. Es hatte aufgehört zu schneien, doch wehte der Wind Schneestaub vom Dach, wurde eine flirrende Wand aufgezogen, die sich langsam absenkte und den Blick freigab. Und so stehe ich hier im Mittelland und sehe, denn was ist, ist niemals alles, statt in den Niesel auf den Atlantik hinaus ...

Katja Alves (58),
Kinder- und Jugendbuchautorin («Die kleine Eulenhexe», Arena-Verlag),
lebt in Zürich und «hin und wieder ein bisschen auswärts»

In Portugal gibt es eine bekannte Legende, die ich vor ein paar Jahren für eine Geschichtensammlung neu erzählt habe. Sie geht so: Eine Prinzessin aus dem Winterland reist in das Land eines maurischen Prinzen. Dort, in der südlichen Ferne, vermisst die Prinzessin den Schnee so sehr, dass sie immer trauriger wird.

Diese Geschichte habe ich in den letzten Monaten bei Lesungen kein einziges Mal hervorgeholt. Die Schnee-Märchenromantik will heuer nicht so recht passen. Frau Holle arbeitet neuerdings nur noch Teilzeit, und auch das Schloss der Eiskönigin droht bald zu schmelzen. Wird es dann durch einen Palast aus Plastikmüll ersetzt? Wir wagen es uns nicht vorzustellen.

Immerhin braucht die Winterprinzessin nicht mehr zu reisen. Sie kann den Schnee auch zu Hause vermissen und ab und zu mit dem Prinzen skypen.

Für ihre Ökobilanz sicher nicht schlecht. Allerdings habe ich sie zu Fuss losgeschickt in warmen Stiefeln. Bei einer allfälligen Überarbeitung werde ich Flip-Flops erwägen.

Vielleicht fragen Sie sich, was der Prinz getan hat, um seine Prinzessin über den fehlenden Schnee hinwegzutrösten? Nun, er hat im ganzen Land Mandelbäume pflanzen lassen, damit die Blüten, die im Frühling den Boden bedecken, die Unglückliche an Schneeflocken erinnern.

Eine entzückende Idee, aber nur für diejenigen, die echten Schnee nur aus der Beschreibung kennen. Die Methode wird hier nicht funktionieren, ganz abgesehen davon ist die Dichte an maurischen Prinzen im Mittelland doch eher überschaubar.

Bänz Friedli (54),
Kabarettist (aktuelles Programm «Was würde Elvis sagen?»),
lebt in Zürich

Eine Saumode, selbst spätabends in den Ferien noch die Mails zu checken. Doch ich habe es getan: Ob ich etwas über den schneefreien Winter schreiben könne, fragt der SonntagsBlick an. Schneefrei? Wir kommen gerade von einem nächtlichen Spaziergang um den Laaxersee zurück. Es schneit unablässig, alles ist wattig und weich verhüllt. Zauberhaft! Wir haben Flocken mit der Zunge aufgefangen, rittlings Schnee-Engel in den Schnee gezeichnet – und ich habe ihnen das Erlebnis so gegönnt: unseren erwachsenen Kindern und dem ewigen Kind in mir. Vorige Woche wars. Das perfekte Winter Wonderland …

Herumtollen in tief verschneiter Landschaft, Hütten bauen, Höhlen graben, sich in Schneewalme werfen. Es ist eines meiner stärksten Kindheitsbilder. Aber ich könnte nicht sagen, wie oft ich es tatsächlich erlebt habe, im Flachland. Dreimal, neunundneunzigmal, Hunderte Male? Bestimmt nicht so oft, wie ich es mir in der Erinnerung ausmale. Sie vergrössert und trügt.

Sicher aber lag öfter Schnee als jetzt. Und ich vermisse ihn, den «richtigen» Winter. Was heisst vermissen? Ich reise ihm beinahe manisch hinterher, bin bei jeder Gelegenheit in den Bündner Bergen. Will auf dem Snowboard ganz bei mir sein. Wissend, dass just Transport, Schneekanonen und dieselbetriebene Pistenraupen dazu beitragen, dass er noch ganz verschwinden wird, der Winter.

Nie, nie schlafe ich so gut, wie wenn es draussen schneit. Vorher aber noch ein Antwortmail an die Redaktion: «Ein paar Zeilen zum Schnee? Schreibe ich gern.»


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