Foto: Philippe Rossier

Weihnachten: Die Geschichte eines Christbaums vom Wald über den Verkauf bis in die Stube
Nordmanntanne Nr. 64223

Eine Million Christbäume werden in der Schweiz zur Weihnachtszeit verkauft. Wir haben eine Nordmanntanne begleitet – vom Schlag im Wald über den Verkauf auf dem Markt bis in die warme Stube.
Publiziert: 22.12.2018 um 17:45 Uhr
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Aktualisiert: 04.01.2019 um 09:16 Uhr
Alexandra Fitz (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

TEIL 1 – Im Wald

Er ist breit, geradezu füllig. Wäre er ein Mensch, würden wir jetzt über Übergewicht als akutes Gesellschaftsproblem diskutieren. Doch er ist ein Baum. Eine Tanne mit 
Migrationshintergrund.

Mit grosser Wahrscheinlichkeit kommt die Abies nordmanniana, gemeinhin Nordmanntanne, ursprünglich aus dem Nordwesten Georgiens. 1835 entdeckte der finnische Botaniker Alexander von Nordmann die Gattung dort im Kaukasus, dem Hochgebirge zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer, das in der Antike als Grenze zwischen Europa und Asien galt. Heute werden die Samen der Kaukasus-Tanne in der ganzen Welt verstreut.

Nordmanntanne Nr. 64223 auf der Plantage in Härkingen SO. Noch wurde sie noch nicht gefällt. Aber dieses Jahr wird sie ein Weihnachtsbaum.
Foto: Philippe Rossier

64 223 steht in Schwarz auf einem blauen, papierenen Schildchen, das an der oberen Stammhälfte der Tanne flattert. Die Nordmanntanne 64 223 ist etwa zehn Jahre alt. Ist der Baum noch nicht gefällt, kann man das nicht genau sagen. Doch Patrik Wyss hat soeben ihre Baumkränze gezählt und ihr Alter geschätzt. Der 28-jährige ist quasi ihr Adoptivvater und hat sie in einer kleinen Baumschule in Härkingen SO aufgezogen. Sie ist nicht die einzige Fremde, sondern gedeiht gemeinsam mit vielen Kaukasus-Kameraden. Mit kleineren und grösseren, schlankeren und schieferen Freunden wuchs sie neben der Autobahn bei Gunzgen Nord kurz vor der Abzweigung Basel auf.

Nordmanntanne Nr. 64223:Die zehnjährige Tanne auf der Plantage in Härkingen.
Foto: Philippe Rossier
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Die Nordmanntanne ist der ideale Christbaum

Wie sich wohl die schlichte, spärliche Rottanne fühlt neben dieser buschigen, grün glänzenden Prachtpflanze? Schliesslich wurde die einheimische Tanne fast verdrängt, und der gemeine Schweizer sieht in der Nordmanntanne den perfekten Christbaum.

Auch Christbaumproduzent Wyss, Vater von um die 100 000 Bäumen, weiss um die Vorzüge 
der Eurasier. Jedes Frühjahr pflanzt er rund 13 000 neue Setzlinge. ­Anfang Dezember liefert er etwa 70 Prozent seiner Bäume zu Händlern in der Region, den Rest verkauft er direkt ab Hof. Am 3. Dezember waren bereits 257 Bäume mit Namen und Adresse von Privatkunden reserviert. Den «Zurückzur-Natur-Trend» erkennt auch 
Stephan Oberholzer, Präsident 
von IG Suisse Christbaum: «Wir ­besinnen uns zurück auf die Wurzeln. Die Käufer wollen sehen, ­woher der Baum kommt, und im besten Fall sogar beim Fällen dabei sein.»

Eine Million Christbäume werden in der Schweiz in der Weihnachtszeit verkauft. Um die 60 Prozent kommen aus dem Ausland. Aus Deutschland und Dänemark. Grössere Anbauflächen bedeuten eben auch tiefere Produktionskosten. Deshalb importieren vor allem Grosshändler immer noch fleissig Bäume. Oberholzer und den rund 500 Christbaumzüchtern aus der Schweiz wäre natürlich lieber, es kämen nicht so viele Nordmänner über die Grenze. Doch es gebe ­bereits eine Verschiebung hin zu mehr Schweizer Christbäumen. 100 Prozent Schweizer Bäume sei utopisch. «Aber noch bisschen mehr Swiss made wär schon schön», sagt Oberholzer.

Nach zehn Jahren heisst es schnipp, schnapp

Wyss holt jetzt die Säge für Nordmanntanne 64 223. Man starrt auf das satte Grün der Pflanze, auf ihre edlen Arme und fragt sich: Dürfen wir denn einen zehn Jahre alten Baum innerhalb von fünf Sekunden fällen, um ihn ein paar Tage aufzupimpen und ihn dann verdorrt vor die Tür zu stellen? «Ja, man darf», heisst es von den Christbäumlern. «Sie werden dafür angepflanzt», resümiert Wyss.
So war für 64 223 schon von Anfang an klar: Wenn ich gross bin, werde ich ein Weihnachtsbaum. Zudem, so heisst es auf der Web­site von IG Swiss Christbaum (ihr Motto: In jeder Stube ein Schweizer Weihnachtsbaum), bauen Baumplantagen CO2 ab, produzieren Sauerstoff und bieten Unterschlupf für Vögel, Igel und Co.

Dann ist es so weit: Nach zehn Jahren heisst es schnipp, schnapp. Wyss bückt sich und sägt den Stamm des Bäumleins durch. Die kaukasische Schönheit fällt auf den Waldboden. Wyss hievt sie auf ­seinen Buckel und bringt sie zu ­einer grossen Maschine. Am einen Ende reingeschoben, kommt sie am anderen Ende in einem weissen Netz heraus, und Wyss wirft sie 
auf einen Haufen. Zu den anderen. Nummer 64 223 wird abtransportiert. Fertig Wald. Ciao Freunde.

TEIL 2 – Auf dem Markt

Da steht er im Netz. Schmal wie ein Kirchturm. Wie gekauft und nicht gewollt. Nordmanntanne 64 223 gehört neu Christbaumhändler Michael Schenk (49) und seiner gleichnamigen Dorfgärtnerei in Langenthal BE. Dass die Tanne nach dem Wald und vor Weihnachten bei ihm einen Zwischenstopp einlegen wird, steht schon seit September fest. Da machte sich der 76-jährige Schenk senior auf nach Härkingen und suchte wie jedes Jahr um die 400 Tannen aus. Das machen Händler so, schliesslich wollen sie die schönsten Tannen. Nordmanntanne 64 223 war eine der Aus­erwählten. Dem Fachmann stach der buschige Baum ins Auge.

Schenk junior befreit den Nadelbaum endlich aus seinem Gefängnis aus weissem Plastik. Und als Nordmann 64 223 plötzlich neben einer Rottanne steht, strahlt seine Noblesse über den ganzen Platz. «Wer will denn so einen Baum?», entfährt es uns beim Anblick des lichten Tännleins. «Eher die ältere Generation», erklärt Schenk. Sie ist viel günstiger. 28 Franken zu 78. Die Rottanne hält auch bloss drei, vier Tage, dann lässt sie ihre Nadeln fallen. Und stechen tut sie auch!

Nordmanntanne Nr. 64223 wartet auf dem Weihnachtsmarkt in Langenthal BE auf einen neuen Besitzer.
Foto: Philippe Rossier

Die Nordmanntanne nadelt nicht so schnell

Hat sie überhaupt noch einen Vorteil? «Sie riecht intensiver», sagt Schenk und reibt ihre Nadeln zwischen seinen Fingern und hält sie sich unter die Nase. Der Nordmann steht mit prallen Nadeln daneben. Unbeirrt. Schliesslich wird er seit Jahrzehnten als perfekter Weihnachtsbaum gehandelt.

Und wie sucht der Profi sein perfektes Exemplar für Heiligabend aus? Er nimmt, was übrig ist. Und wenn es eine Rottanne ist? «Das finden die Kinder schon nicht so toll.» Auf fünf bis zehn Bäumen bleibt Schenk jedes Jahr sitzen. Die Rottannen werden an die Pferde verfüttert. Nordmanntannen fressen sie nicht. Zu viele Bitterstoffe, zu harte Nadeln. Sie finden in Trauerkränzen für Beerdigungen ein würdiges Ableben.

64 223 bleibt nicht übrig. So wird sie am Wochenende vom 15. Dezember auf den Weihnachtsmarkt in Langenthal geschleppt und wartet in der langen Marktgasse wieder einmal auf einen neuen Besitzer. Sie lässt sich den Stress der letzten Tage nicht anmerken. Anmutig steht sie in der ersten Reihe. Neben ihr brätelt ein älteres Paar Marroni in Pfannen, hinter ihr fahren Kinder auf einem schönen, altmodischen Karussell. Die Besucher berühren ihre Äste beim Vorbeigehen, die Ersten halten an und mustern sie interessiert. 75 Franken kostet der rund 1,75 Meter Grosse im rostroten Ständer.

«Bäume werden vermenschlicht»

«In der Stadt bieten sie jetzt ja Tannen im Topf zum Ausleihen an», erzählt Schenk bei einem Becher Apfelmost. Dieser Trend bereitet ihm und seinen Kollegen etwas Sorgen. Wyss und Schenk sind sich einig: «Schwachsinn!» Das Aus- und Einpflanzen sei Stress pur für den Baum, und die Transporte sind schlecht für die Umwelt. Ausserdem braucht es ja auch Platz für neue Kulturen. «Bäume werden vermenschlicht», ärgert sich Schenk. Das sei die Romantisierung der Städter. Dasselbe sei bei der Hornkuh-Initiative passiert. Und dann schiebt er noch nach: «Ich verhökere meine Christbäume am 24. 12. übrigens auch nicht für 50 Prozent. Damit geht für mich die Wertschätzung gegenüber dem Produkt verloren.» Nummer 64 223 steht immer noch da – und verbringt die Nacht in der Langenthaler Marktgasse. Bis am nächsten Tag Familie Ziebold über den Weihnachtsmarkt schlendert und sich in den Nordmann verliebt. 


TEIL 3 – In der Stube

Es läuft «Jingle Bells». Gesungen von Rosemary Clooney, US-Popsängerin und Tante von Schönling George. Nordmanntanne 64 223 wippt zwar nicht mit, aber es scheint ihr zu gefallen. Zu gefallen, dass sie im Mittelpunkt steht. Vier Leute beschäftigen sich gleich­zeitig mir ihr und verzieren sie mit allerlei Schmuck. Rote und goldene Kugeln, buschige Lametta, kleine Wachskerzen. Man kann sich denken, dass die Tanne froh ist, in einer warmen Stube zu stehen. Seit dem 3. Dezember ist sie weg von 
zu Hause. Endlich scheint sie eine neue Bleibe zu haben. Bei Familie Ziebold aus Langenthal.

Im August zog sie von Wohlen bei Bern in den Oberaargau. Die zehnjährige Nordmanntanne ist demnach ihr erster Baum im neuen Haus. Sie ist «ein Zufallskauf», wie Rolf Ziebold (48) so schön sagt. Früher kauften sie den Baum immer beim selben Bauern.

Nordmanntanne Nr. 64223 endlich in der warmen Stube. Für Familie Ziebold aus Langenthal BE war es Liebe auf den ersten Blick.
Foto: Philippe Rossier

«Manche messen die Bäume ab und besprechen sich. Wir laufen hin, und er muss uns grad gefallen. Quasi nach dem «Liebe-auf-den-ersten-Blick»-Prinzip», sagt Ziebold. Am Samstag vor einer Woche spazierte die vierköpfige ­Familie über den Markt, der jüngste Sohn Marlon wollte schon an ­diesem Nachmittag einen Weihnachtsbaum kaufen. «Zu früh», sagte der Vater. Doch der Fünf­jährige rief weiterhin: «Ich will jetzt einen Baum!»

Die Familie war sich einig: Das ist unser Baum!

Die beiden Jungs drehten eine Runde auf dem Nostalgie-Karussell, das hinter Nordmann 64 223 platziert war. Nach der Fahrt stiess die Familie auf den buschigen Baum. «Ich hab ihn zuerst gesehen», ruft der siebenjährige Aaron. «Dieser Baum ist aber schön, habe ich gesagt.»

64 223 lässt sich genüsslich beschmücken und lauscht der Geschichte. «Es war wieder einmal Liebe auf den ersten Blick», sagt Rolf Ziebold mit einem Lächeln. Die Männer waren sich einig, dann holten sie Mama Carmela (45) dazu, und auch sie war begeistert. «Als eine andere Familie stehen blieb und den Baum anschaute, rief ich sofort: Der ist schon gekauft!»

Erst wollten sie den Nordmann im Garten stehen lassen, damit er frisch bleibt. Doch nun steht die ganze Familie um die Tanne, die dieses Jahr 17 Tage mit ihnen verbringen wird, und Mama und Papa Ziebold erzählen, dass der Schmuck bereits 22 Jahre alt ist. Und auch dass sie einmal, als sie noch keine Kinder hatten, bei der Landi einen Baum gestohlen haben. «Die standen da nachts so rum, und wir brauchten einen», sagt Rolf Ziebold. «Aber am Tag, als sie wieder öffneten, gingen wir hin und bezahlten den Christbaum», resümiert Carmela Ziebold.

Der Star an Weihnachten

Der Schlussakt ist die Baumspitze aus Glas. Gerade hat Rolf Ziebold die Spitze mit einem Brotmesser abgehauen und entfernt ein paar letzte Ast-Knubbel, schon sitzt Marlon auf seinen Schultern. Dieses Jahr darf er den letzten Schmuck anbringen. Der Kleine streckt sich nach vorne. «Vorsichtig», sagt der Vater noch. Da hat der Junge den Glasschmuck schon festgesteckt und lächelt zufrieden.
Zufrieden sieht auch Nummer 64 223 aus. Er ist am Ziel eines ­jeden Christbaums angekommen: In der warmen Stube bei einer ­lieben Familie mit glänzendem Schmuck. In den nächsten Tagen sind alle Augen auf ihn gerichtet, 
er ist der Star an Weihnachten. Nun rieselt «Last Christmas» aus den ­Boxen in der Langenthaler Stube. Nordmanntanne 64 223 wippt zwar nicht mit, aber es scheint ihr zu gefallen.

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