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Warum wir uns selber feiern
Happy Birthday!

Kuchen, Kerzen, Korkenknallen: Geburtstagsfeste gehören zum Alltag. Doch wie kommt es, dass Menschen sich selber feiern? Ein deutscher Philosoph gibt spannende Antworten.
Publiziert: 04.06.2018 um 18:14 Uhr
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Aktualisiert: 16.09.2019 um 16:16 Uhr
Kuchen, Kerzen, Kinderspiele: Das sind weltweit die Grundbestandteile eines Geburtstags.
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Daniel Arnet

Jeden Tag trifft es um die 21000 Schweizerinnen und Schweizer: Sie haben Geburtstag. Die einen freuen sich darauf – vor allem Kinder. Die anderen fühlen sich dadurch an die Vergänglichkeit erinnert – vornehmlich über 50-Jährige. Die einen begiessen sich selber, die andern lassen sich (widerwillig) feiern. Aber an niemandem geht der Tag spurlos vorbei.

Stefan Heidenreich: «Rund um die Welt und quer durch alle Schichten hat sich der Geburtstag zwischen 1600 und 1900 ausgebreitet.»

«Happy Birthday to You» hallt es täglich tausendfach aus Babyzimmern, Büroräumen oder Barbetrieben – eine Kinderliedmelodie aus dem späten 19. Jahrhundert. Die dazugehörige Geburtstagsparty schmeisst man seit gut 400 Jahren: Sie ist eine Errungenschaft der ­Renaissance, wie der deutsche Philosoph und Kunstwissenschaftler Stefan Heidenreich (52) in seinem neuen Buch «Geburtstag – wie es kommt, dass wir uns selbst feiern» ausführt.

«Rund um die Welt und quer durch alle Schichten hat sich der Geburtstag zwischen 1600 und 1900 ausgebreitet», sagt Heidenreich im Gespräch mit dem SonntagsBlick-Magazin, «und zwar offenbar aus dem deutschen Sprachraum kommend.» Auch wenn es bei den Bräuchen länderspezifische Unterschiede gebe (siehe Box), so habe das Erziehungssystem mit Kindergärten und Schulen dafür gesorgt, dass der Geburtstag weltweit ähnlich aussehe. «Die Grundbausteine – Kuchen, Kerzen, Kinderspiele – finden wir überall.»

Geburtsregister dienen in der Antike der Steuereintreibung

Heidenreich zeigt in seiner vergnüglich geschriebenen kulturhistorischen Abhandlung anschaulich: Um den eigenen Geburtstag feiern zu können, reicht geboren zu sein bei weitem nicht aus. Es braucht verschiedene Zutaten, die sich im Laufe der Menschheitsgeschichte erst relativ spät zu einem Ganzen gefügt haben.

Zunächst braucht es einen verbindlichen Kalender, dann eine ­Erinnerung an die Geburt, die in Datumform möglichst schriftlich festgehalten ist. «Noch heute ist das rund um den Globus keinesfalls selbstverständlich», steht ihn ­Heidenreichs Buch «Geburtstag». ­«Jedes Jahr werden gut 50 Millionen Kinder geboren, also fast jedes dritte, ohne dass jemand ihren ­Geburtstag registriert.»

Anderseits verfügen bereits die antiken Römer über Geburtsregister, und die Feier des Welteintritts gehört schon bei ihnen zum Alltag. Aber die Register dienen primär zur Rekrutierung der jungen Männer sowie der Steuereintreibung. Und das Fest ist eine religiöse ­Huldigung des Schutzgottes.

Würgen und Zügeln am Geburtstag

Die Grundbausteine eines ­Geburtstags sind weltweit die­selben. Dennoch gibt oder gab es länderspezifische Eigenheiten. So hat der Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer 1899 einen Text veröffentlicht, worin er einen damals in der Schweiz üblichen Brauch beschreibt: das Würgen des Geburtstagskindes, auf dass es einem etwas schenkt. Davon soll sich die Wendung «umarmen» ableiten. Stefan ­Heidenreich weiss von einem Brauch in den Niederlanden, wonach man auch dem Ehepartner zum Geburtstag der besseren Hälfte gratuliert, also: «Lieber Herr X, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag ­Ihrer Frau.» Der 15. Geburtstag eines Mädchens ist in südame­rikanischen Ländern wie Peru von grosser Bedeutung – die Quinceañera hat fast den ­Stellenwert ­einer Hochzeit. In ­Korea kennt man kein grösseres Fest als den 60. Geburtstag. Und in Indonesien wählt man das Wiegen­fest vorzugsweise, um in ein neues Haus einzuziehen.

Die Grundbausteine eines ­Geburtstags sind weltweit die­selben. Dennoch gibt oder gab es länderspezifische Eigenheiten. So hat der Volkskundler Eduard Hoffmann-Krayer 1899 einen Text veröffentlicht, worin er einen damals in der Schweiz üblichen Brauch beschreibt: das Würgen des Geburtstagskindes, auf dass es einem etwas schenkt. Davon soll sich die Wendung «umarmen» ableiten. Stefan ­Heidenreich weiss von einem Brauch in den Niederlanden, wonach man auch dem Ehepartner zum Geburtstag der besseren Hälfte gratuliert, also: «Lieber Herr X, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag ­Ihrer Frau.» Der 15. Geburtstag eines Mädchens ist in südame­rikanischen Ländern wie Peru von grosser Bedeutung – die Quinceañera hat fast den ­Stellenwert ­einer Hochzeit. In ­Korea kennt man kein grösseres Fest als den 60. Geburtstag. Und in Indonesien wählt man das Wiegen­fest vorzugsweise, um in ein neues Haus einzuziehen.

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Es braucht also noch einen wesentlichen Bestandteil, um Geburtstag im heutigen Sinn feiern zu können: selbstbewusste Menschen, die sich nicht schicksalsergeben einer höheren Macht ausgeliefert sehen und stattdessen als starke Individuen mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. «Ich denke, also bin ich», formuliert 1619 der französische Philosoph René Descartes (1596–1650). Gleichzeitig beginnen Menschen, sich selber zu feiern.

«Das Ich ist nicht etwas, das wir einfach haben, sondern es will immer wieder von jeder und jedem gelebt werden», sagt Heidenreich. «Wir verstehen uns nicht deshalb, weil uns jemand erklärt, wer wir sind, sondern weil wir lernen, uns auf eine bestimme Weise zu uns selbst und zu anderen zu verhalten.» Und da spiele der Geburtstag eine entscheidende Rolle.

Von den Registern der Antike zum Rationalismus Descartes’ führt keine direkte Linie – das Christentum sorgt für einen Bruch: Nach dem Untergang des Römischen Reichs verdammen die Bibel­treuen den Geburtstag, denn mit ihm kommt die Sünde in die Welt. Die Schrift erwähnt bloss Ungläubige, die den Geburtstag feiern, etwa den Pharao oder Herodes. Und Hiob klagt im Alten Testament: «Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren bin, und die Nacht, da man sprach: Ein Knabe kam zur Welt.»

Das Weihnachtsfest als Zugeständnis der Christen

Doch ausgerechnet das Christentum organisiert ab dem 4. Jahr­hundert die grösste und bis heute umsatzstärkste Geburtstagsparty der Menschheitsgeschichte: das Weihnachtsfest zur Erinnerung an die Niederkunft Jesu. «Der Kampf gegen die Heiden war gewonnen, und die Kirche konnte es sich ­leisten, etwas entspannter mit alten Ritualen umzugehen», sagt Heidenreich. Doch die Fundamentalisten und Hardliner seien seinerzeit über die Nachahmung römischer Geburtstagssitten nicht wirklich glücklich gewesen. «Sie hätten am liebsten nur Ostern und andere Todes­tage von Märtyrern gefeiert.»

Wie wenn das Weihnachtsfest nicht schon ein genug grosses Zugeständnis gegenüber der Bevölkerung gewesen wäre, erweist sich die geburtstagsfeindliche Kirche noch als Wegbereiterin für private Feten – wenn auch unfreiwillig: Ausgerechnet der Ablassbrief, mit dem sich jeder Gläubige von seinen Sünden freikauft, macht aus der frommen Herde eigenständige Menschen, die persönlich einen Vertrag mit dem Bischof abschliessen ­können.

Die Grundbausteine – Kuchen, Kerzen, Kinderspiele – finden wir überall.
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Frei von Sünden, aber vor allem ein Individuum: Das ist die tiefere Bedeutung des Ablassbriefes. Und dieses individuelle Bewusstsein ist – wie bereits gezeigt – die Voraussetzung, um einen persönlichen Geburtstag feiern zu können. Ist es da nicht paradox, dass die Protestanten, die den Ablass bekämpft haben, schon private Geburtstage feiern, während die Katholiken noch bis ins 20. Jahrhundert hinein den Namenstag ehren? «Martin Luther hat den Ablasshandel bekämpft, das ist richtig», sagt Heidenreich dazu, «aber nicht den Vertrag selber, sondern nur die Wahl der Vertragspartner.» Luther habe gesagt, diesen Vertrag könne man nicht mit dem Papst eingehen, sondern nur direkt mit Gott. «Aber es bleibt ein Vertrag.»

Obwohl durchs Christentum ange­stossen, hat sich in den heu­tigen Geburtstagsfesten nichts ­Religiöses erhalten. «Es handelt sich ja nicht mehr um einen Gottesdienst wie im alten Rom», sagt Heiden­reich. «Als Individualfeier bleibt die Gestaltung des Festes ­jedem Einzelnen überlassen.» Dass diese Freiheit auch eine Belastung sein kann, weiss jeder, der schon einmal einen Kindergeburtstag organi­siert hat.

Am 1. Januar haben in der Schweiz am meisten Geburtstag

Der im schwäbischen Biberach aufgewachsene Heidenreich erinnert sich zurück, er ist etwa acht Jahre alt: Eine ärmliche, katholische Bauernfamilie feiert zum ersten Mal nicht den Namens-, sondern den Geburtstag ihres Sohnes Paul und lädt Gleichaltrige ein, auch den kleinen Stefan Heidenreich. «Diese Familie wusste gar nicht, wie das geht», sagt er rückblickend. «Vier, fünf Kinder sassen um den Tisch herum, und es war überhaupt nichts vorbereitet.»

Im 19. Jahrhundert, der grossen Zeit der Benimmbücher, erscheinen zwar Anleitungen, wie man sich beim eigenen und bei Geburtstagen anderer richtig verhält. «Das war damals ganz klar Teil bürgerlicher Etikette, die sich allerdings nur langsam in die unteren Gesellschaftsschichten verbreitete.»

Eine solche normierende Funk­tion spricht Heidenreich heute Face­book zu: «Da gibt es das grosse Schaulaufen der Gratulanten. Und wie bei jedem Schaulaufen bürgern sich bestimmte Formen ein.» Und das sei im Interesse der Plattform: Der Geburtstag als perfekte Gelegenheit, um die Leute zu motivieren, etwas zu posten. Zeitweise besteht die Hälfte aller privaten Posts auf Face­book aus Geburtstagsgrüssen.

Haben die Menschen die relativ junge Errungenschaft des Geburtstagfeierns allmählich im Griff, so versuchen sie zunehmend das Lebens­eintrittsdatum ihres Nachwuchses selber zu bestimmen. «Rund um die Geburt hat sich eine ­ganze medizinische Industrie breitgemacht», sagt Heidenreich. «Dem Zufall überlassen wir da immer weniger.» Das zeigt sich am Anteil des Kaiserschnitts, bei dem Eltern und Ärzte den Termin in einem gewissen Rahmen bestimmen können. In der Schweiz betrifft das mittlerweile fast ein Drittel der Geburten – eine Verdoppelung in den letzten Jahrzehnten.

In China müssen Ärzte jeweils am 6., 8. und 9. eines Monats mehr Wunschkaiserschnitte durchführen, weil diese Daten als Glückszahlen gelten. Das schlägt sich nieder auf die Statistik, wann die meisten Chinesen Geburtstag haben. In der Schweiz scheint die 1 beliebt zu sein: Nicht weniger als sechs Monatsanfänge sind in den Top Ten der häufigsten Geburtstage, nämlich der 1. von Januar, März, Mai, Februar, Juli und Oktober.

Der Neujahrstag schwingt allerdings deutlich obenaus: Sind es an allen andern Tagen (mit Ausnahme des 29. Februar) je 18 500 bis 25 000 in der Schweiz Wohnhafte, die Geburtstag haben, sind es am 1. Januar gemäss Bundesamt für Statistik 37 320. Bei dieser Rekordzahl haben aber weder gebärfreudige Mütter noch festtagsmüde Ärzte ihre Hände im Spiel, sondern das Migrationsamt: Jeder Flüchtling, dessen Geburtsdatum unbekannt ist, erhielt lange Zeit den 1. Januar ins Dokument gestempelt.

Stefan Heidenreich: «Geburtstag – wie es kommt, dass wir uns selber feiern», Hanser-Verlag.

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