Vom Kompost in die Pflegestation
Gärtnerinnen retten ungeliebte Pflanzen und suchen Zuhause für sie

Der Pflanzenladen in der alten Feuerwehr in der Stadt Bern ist einmalig. Hier finden Drachenbäume aus Hausauflösungen, Olivenbäume von Werbeevents und Kompost-Kakteen neue Besitzerinnen.
Publiziert: 20.02.2024 um 10:13 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2024 um 09:42 Uhr
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Vanessa SadeckyRedaktorin Green Circle

Eine der ersten Spenderinnen, die Nora Hürlimann (39) und Kristina Hodel (38) um Hilfe bat, hatte ein bäumiges Problem in ihrer Stube. 30 Jahre hatte die ältere Dame ein Feigenbaum-Geschwisterpaar gehegt und gepflegt. 30 Jahre lang wuchsen die Bäume – und wollten nicht aufhören. Das Baumpaar drohte der älteren Dame in ihrem kleinen Wohnzimmer wortwörtlich über den Kopf zu wachsen. Hürlimann und Hodel fuhren zur Spenderin und brachten die Bäume in ihren Laden für Pflanzen aus zweiter Hand. «Man merkte, dass die Frau an den Pflanzen hing. Gleichzeitig hat man eine grosse Erleichterung gespürt, weil sie in ihrem Zuhause nach der Abholung viel mehr Platz hatte. Sie hat sich ganz oft bedankt», sagt Nora Hürlimann und trinkt einen Schluck Kaffee.

Ausgesetzte Pflanzen vor der Tür

Die Gärtnerin führt seit 2022 mit ihrer Kollegin Kristina Hodel das Pflanzenbrocki in Bern. Der Gedanke dahinter: Pflanzen nicht als entsorgbare Dekoartikel sehen, sondern als langlebige Lebewesen, die nicht perfekt aussehen müssen. Die beiden wollen lokale Ressourcen ganz im Sinne der Kreislaufwirtschaft so lange wie möglich nutzen. Vom Avocadobaum bis zum Kaffeebaum kommen alle Pflanzen von Spendern oder wurden aus dem Grüngut, Kompost oder Abfall gerettet. Es ist wie im Tierheim. Manche der Pflanzen wurden vor der Brockitür ausgesetzt.

Das Angebot sieht jeden Tag anders aus. «Momentan haben wir eine Drachenbauminvasion aus einer Büroauflösung», sagt Kristina Hodel. Nach den Rettungseinsätzen steht für die Gründerinnen noch mehr Arbeit an: Die Gärtnerinnen topfen vor dem Verkauf alle Neuankömmlinge um. Pflanzen in einem kümmerlichen Zustand päppeln sie in einer Pflegestation im Laden auf.

Nora Hürlimann (39) und Kristina Hodel (38) betreiben das «Pflanzenbrocki» in der alten Feuerwehr in Bern. Die Pflanzen im Laden stammen oft aus Haus- oder Büroauflösungen.
Foto: Vanessa Sadecky
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Kundenglück dank Restaurant

Pro Tag treten um die 25 Kunden durch die Schiebetür zum Pflanzenbrocki. Vom Kind über die Teenagerin bis zum Pensionär kommen alle vorbei. Der besondere Standort in der alten Feuerwehrhalle mit den hohen Glasfenstern zahlt sich nicht nur optisch aus: Wo früher Löschautos auf ihren Einsatz warteten, stehen heute neben den Pflanzen gedeckte Tische und Lebensmittelspender. Denn das Pflanzenbrocki teilt sich die Feuerwehrhalle mit einem Unverpacktladen und Restaurant, was dem Brocki mehr Kundschaft beschert. 

Preise von 2 bis 800 Franken

Die beiden Unternehmerinnen können mittlerweile bescheiden vom Pflanzenbrocki leben. Nora Hürlimann sagt, als angestellte Gartengestalterin würde sie mehr verdienen. Kristina Hodel sagt, dass sie in ihrem alten Job als Floristin weniger verdient hätte. Die beiden Frauen arbeiten abwechselnd im Laden, der Teil der Genossenschaft «Feuerwehr Viktoria» ist. 

Die Preisspanne im Pflanzenparadies ist gross: «Wir versuchen faire Preise anzubieten», sagt Kristina Hodel. Kleine Pflanzen mit Topf gibt es ab zwei Franken, für Raritäten können mehrere Hundert Franken fällig sein. Im Hinterhof des Ladens gedeiht ein solcher seltener Fund. Es sind Olivenbäume, die für 800 Franken pro Stück verkauft werden sollen. Die Pflanzen sind über 25 Jahre alt und dienten bei einem Werbeevent als Dekoration.

Abgase und Abfall sparen

Pflanzen aus zweiter Hand zu kaufen, ist aus ökologischer Sicht oft sinnvoller, als sie im Supermarkt oder Gartencenter zu kaufen oder online zu bestellen. «Manche Menschen denken, oh, das ist ein Stück Natur, das ist unschuldig – so einfach ist es leider nicht», sagt Nora Hürlimann. Das Problem: Die Pflanzen im Detailhandel werden oft monatelang in Treibhäusern gezogen und aus dem Ausland importiert, wobei viel Abgas und Verpackungsabfall anfällt. 

Wie Familienmitglieder

Den Pflanzenbrocki-Besitzerinnen ist es wichtig, ihre Kundschaft bei der Pflege zu beraten, damit die Pflanzen ein langes Leben haben. Sie geben im Laden und auf Instagram Giess- und Standorttipps. Ihre Faszination für die grünen Lebewesen rührt auch daher, dass einige Pflanzen so alt werden können. Für manche sind Pflanzen wie Familienmitglieder oder zumindest liebgewonnene Erbstücke: «Wenn mir meine 94-jährige Nachbarin ihren Kaktus zeigt und erzählt, dass er ein Geschenk ihrer Mutter war, macht mich das ehrfürchtig», sagt Nora Hürlimann. 

Basler Pflanzenbrocki in Planung

Das Gärtnerinnenduo, das sich seit der Lehre in der ehemaligen Gartenbauschule Niederlenz kennt, hofft, dass sich Pflanzenbrockis noch mehr etablieren werden. In Davos GR, Gutenburg BE und Embrach ZH gibt es schon ähnliche Läden und in Basel ist ein weiteres Pflanzenbrocki in Planung.


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