Warum unser Abwasser der Spion unserer Gesellschaft ist
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Zu Besuch in der Kläranlage:Schöne Sch.....!

Zu Besuch in der Kläranlage
Warum unser Abwasser der Spion unserer Gesellschaft ist

Weshalb verbrennen wir Geld? Wie viele Menschen haben Covid-19? Und wie viel wird gekokst? Das alles und vieles mehr kann man bei einem Besuch in der Kläranlage erfahren.
Publiziert: 24.05.2021 um 18:01 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2021 um 10:05 Uhr
Daniel Rensch ist Chef der Kläranlage Werdhölzli in Zürich. Er ist sichtlich stolz auf die modernste Anlage der Schweiz.
Foto: STEFAN BOHRER
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Silvia Tschui

Es stinkt. Es stinkt so sehr, dass es Menschen mit empfindlicherer Nase nur ein paar Sekunden aushalten, bevor sie fluchtartig die Halle verlassen müssen, weil es sie «lupft». «Machen Sie sich nichts draus, das geht mir manchmal je nach Tagesform auch so», sagt Daniel Rensch (49). Der ETH-Umweltingenieur ist seit 2020 Leiter der Kläranlage Werdhölzli in Zürich und sichtlich stolz auf seine Anlage: «Wir haben schweizweit die modernste Anlage – bei uns kommt nahezu Trinkwasserqualität hinten raus», sagt Rensch.

Im Abwasser lassen sich Covid-Erkrankungen ablesen

Bevor das so weit ist, ist im Abwasser alles, aber auch alles abzulesen, was wir als Gesellschaft so tun und treiben. Auch das, was wir nicht zugeben würden. Um Daten zu gewinnen, nehmen Fachleute der Eidgenössischen Anstalt für Wasserversorgung, Abwasserreinigung und Gewässerschutz (Eawag) ständig Proben aus dem Abwasser. Beispielsweise Christoph Ort (46). Der ETH-Umweltingenieur und Leiter der Abteilung Siedlungswasserwirtschaft analysiert mit seinen Mitarbeitern zum Beispiel, wie sich die Covid-19-Pandemie im Abwasser spiegelt. Die Anzahl von Bruchstücken des Virenerbguts in der braunen Brühe gibt hierzu Auskunft. Ort kommt so auf zuverlässige Trends. Im Vergleich etwa zum Testen. Denn das tun ja nur Menschen, die vermuten, sich angesteckt zu haben. Im Abwasser finden sich aber auch ausgeschiedene Virenbruchteile von Menschen, die keinerlei Symptome zeigen. Für die Covid-Taskforce des Bundesrats sind diese Zahlen in der Pandemie essenziell, um Empfehlungen an den Bund abgeben zu können.

Abwasser enthüllt fast alle Geheimnisse unserer Gesellschaft

Christoph Ort weiss auch, wie viel Kokain in Zürich ungefähr konsumiert wird – viel! –, und könnte bei Bedarf sehr vieles mehr aus unserem Abwasser lesen: wie viele von 30 verbotenen Drogen und Pharmazeutika in Zürich konsumiert werden etwa – wobei es den Laien überrascht, dass es überhaupt deren 30 gibt. Oder wie viel Alkohol und Nikotin wir konsumieren, wie wir uns ernähren, wie es um unsere psychische Gesundheit steht, aber auch, welche Krebserkrankungen aktuell häufig auftreten. Wie es um die Resistenzen von Bakterien auf Antibiotika steht, welche Bekleidungsfasern wir mit Vorliebe tragen und wie viele von uns Allergiker sind. Eigentlich ist Abwasser sozusagen der Fingerabdruck unserer Gesellschaft. Interessant wird das natürlich dann, wenn Forscher diese Biomarker über einen längeren Zeitraum beobachten und Trends ablesen können, auf die die Gesellschaft dann wiederum reagieren kann. So empfiehlt etwa eine norwegische Forschungsgruppe, dass Staaten die Daten nutzen können, um auf gesellschaftliche Trends zu reagieren: bei steigendem Alkoholkonsum etwa die Steuern auf Alkohol zu erhöhen oder bei steigendem Psychopharmakakonsum vermehrt in Auffanginstitutionen zu investieren.

Noch vor 100 Jahren machten wir ins Töpfchen

Dass unser Abfall und unsere Hinterlassenschaften Rückschlüsse über uns ermöglichen, war schon immer so – die ganze Archäologie lebt davon. Verhältnismässig neu ist aber die zentralisierte Klärung des Abwassers. Am Beispiel des Werdhölzli ist das seit 1926 der Fall. Drei Jahre zuvor beschliesst der Zürcher Stadtrat den Bau der Anlage. Übrigens schweizweit nicht als Erste: Die St. Galler kommen den Zürchern schon 1917 zuvor. Vor dieser Zeit machte man auch in den grossen Schweizer Städten in einen Topf. Die gesammelten Inhalte brachten Arbeiter mit Pferdewagen ins Werdhölzli, lagerten sie dort und brachten die zu Dünger fermentierten Fäkalien später auf den Feldern der umliegenden Landwirtschaft aus – en Guete! Das Baden in Schweizer Gewässern war gesundheitsgefährdend, weil das Abwasser ungeklärt in offene Gewässer floss. Heutzutage ist beides verboten. Das mit dem Düngen der Felder übrigens – man staunt und ekelt sich – erst seit dem BSE-Skandal der 1990er-Jahre, als die von Kühen übertragenen, auch für Menschen gefährlichen Proteine namens Prionen plötzlich auf den mit Klärschlamm gedüngten Feldern nachgewiesen werden konnten.

Ein Rohstoff, der verbrannt wird

Heute hieven vollautomatisierte Rechen, Bagger und Förderbänder in der eingangs erwähnten Halle die via Toilettenspülung angelieferten Feststoffe aus dem Wasser. Dieser erste Schritt der Abwasserreinigung ist deshalb nicht nur geruchlich, sondern nur schon optisch brechreizerregend: braun. Schmierig. Tonnen davon. Man erkennt zwischen dem braunen Geschmier Papier, ins WC heruntergespülter Tomatensalat, alte Spaghetti. Aber eben nicht nur. «Ein Mitarbeiter, der jetzt pensioniert ist, hat sich sogar jeweils freiwillig die Aufgabe gemacht, spezielle Gegenstände zu retten», sagt Rensch, und betont: «Freiwillig!» Gebisse, unzählige Handys, Schlüssel, Eheringe, ganze Werkzeuge sind von dieser – freiwilligen (!) – Arbeit ausgestellt. Aber in der festen Masse und im abgeschiedenen Abwasser steckt nicht nur das, was wir die Toilette runterspülen –, auch das Regenwasser von Dächern und Strassen, das in den Dolen abfliesst, landet im Werdhölzli. Und damit tonnenweise Pneuabrieb von Autoreifen, Russ von Abgasen, Zigarettenkippen und ein grosser Teil des Plastikmülls, den schlecht erzogene Menschen ständig auf die Strasse schmeissen. Deshalb appelliert Rensch an uns: «Entsorgen Sie Ihre Essensreste bitte nicht ins Klo – wir müssen sie nämlich nachher wieder aus dem Abwasser fischen. Und werfen Sie bitte Verpackungen und PET-Flaschen nicht einfach auf die Strasse. Littering ist eines unser grössten Probleme.»

Die herausgehobene, entwässerte, stinkende Masse wird automatisiert in Container abgefüllt. Arbeiter fahren die vollen Container schliesslich direkt in die Kehrichtverbrennungsanlage. Übrig bleibt eine nährstoffreiche Brühe, die den weiteren Klärstufen zugeführt wird.

Aus dem Schlamm entsteht Methangas zum Heizen

Das geruchlich Schlimmste ist so bereits geschafft. Das verbliebene braune Wasser ist geruchsarm und fliesst nun automatisch in diverse Becken, wo unterschiedliche Verfahren Sand, Fett und Schlamm abscheiden. Das ist zunächst eine mechanische Sache: Eingeblasene Luft lässt etwa Sand auf den Grund sowie Fett und Öl an die Oberfläche schwimmen, von wo automatisierte Schieber sie abschöpfen. Später fliesst das Wasser langsam ins Vorklärbecken, wobei sich festere Teile absenken. Eine Art Arm schiebt diesen Schlamm zu einem Pumpwerk, das ihn in sogenannte Faultürme spediert. Das sind runde, hohe Türme, in denen der Schlamm ohne Sauerstoff vor sich hin fermentiert und dabei Methan bildet – ein Gas, das die Anlage nach der Aufbereitung ins Gasnetz einspeist. Etwa 5000 städtische Haushalte können damit ihre Heizung betreiben oder ihr Warmwasser heizen. Der vergärte Klärschlamm wird schliesslich entwässert und vor Ort in einer hauseigenen Anlage verbrannt, wobei die entstehende Wärme die ganze Kläranlage und umliegende Haushalte und Gewerbebetriebe heizt.

Die Asche aus der Kläranlage enthält wertvolles Phosphor und wird in einer separaten Deponie aufbewahrt, um in Zukunft Phosphor zurückgewinnen zu können. Diese Ressource wird weltweit knapp und ist für das Wachstum von Gemüse unerlässlich. Schuld an der Knappheit sind Abholzung, industrialisierte Landwirtschaft und die daraus folgende Bodenerosion. In einer zukünftigen Investitionswelle will Rensch die Anlage deshalb so aufrüsten, dass Phosphor direkt zurückgewonnen werden kann.

Sogar Mikroplastik ist hier kein Problem

Nur eine Investition von vielen. Die Kläranlage Werdhölzli hat sich seit der Eröffnung kontinuierlich weiterentwickelt. Auch das Gelände, das sie benötigt, wurde immer grösser: Um nämlich die verbliebenen Stoffe wie gelöste Fäkalien und Urin sowie Waschmittel oder Pharmazeutika aus dem Wasser zu filtern, benötigt es weitere Schritte. Mikroorganismen fressen in der sogenannten «biologischen Reinigung» die meisten organischen Stoffe und bauen so Ammonium zu Stickstoff ab. Die nachfolgende «chemische Reinigung» besteht darin, dass sich zugeführte Eisensalze mit vorhandenen Phosphaten – aus Seife oder Waschmitteln – verbinden. Ausflocken nennt man diesen Vorgang, bei dem diese Moleküle fest werden, absinken und so entfernt werden können.

Es bleiben die problematischsten, für die Eawag interessantesten Stoffe zurück: Chemikalien wie Pharmaprodukte oder Pestizide aus der Landwirtschaft. Beiden wird bei der spektakulären Ozonung, der jüngsten Investition, der Garaus gemacht. Mittels künstlich erzeugten Blitzen entsteht Ozon. Dieses hochreaktive Gas spaltet im Wasser diese chemischen Verbindungen auf. Zum andern sind es Mikroplastikverunreinigungen, die beim Waschen unserer Kleider entstehen – ein massives Problem für den Gewässerschutz und für die gesamte Nahrungskette. Bereits findet sich gemäss neusten Forschungen Mikroplastik in den Plazenten schwangerer Frauen – mit ungeahnten Folgen für die Entwicklung der so geborenen Kinder. Für die Kläranlage Werdhölzli ist Mikroplastik hingegen kein Problem. In einer letzten Stufe filtert feinster Sand aus Blähschiefer die Mikroplastikstücke heraus, was nur in wenigen Anlagen in der Schweiz möglich ist.

Das Mikroplastikproblem ist hierzulande trotzdem noch längst nicht gelöst, auch wenn die grössten Anlagen in den nächsten Jahren nach dem Muster der Pionieranlage Werdhölzli ausgebaut werden. «Aber auch dann ist nur rund die Hälfte des Schweizer Abwassers von Mikroplastik befreit», sagt Rensch und fügt an: «Kleinere Städte und Gemeinden sollten deshalb besser über den Tellerrand schauen und gemeinsam etwas Rechtes bauen, statt jeder für sich zu ‹chüecheln›.» Er appelliert gleichzeitig an die Bevölkerung: «Noch besser wäre es, solche Stoffe im Abwasser von Anfang an zu verhindern. Textilien aus natürlichen Materialen wie Baumwolle oder Leinen sondern keinen Mikroplastik ab.»

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