Foto: Birgit Lang

50 Jahre Frauenstimmrecht
Weiterkämpfen

Die Autorinnen Alexandra Fitz und Aline Wüst haben sich übers Frausein unterhalten. Da ist vieles, was sie ratlos macht. Weshalb ist das Leben als Mutter so anstrengend, die Arbeit von Frauen schlechter bezahlt und die Anzeigerate bei Vergewaltigungen so tief?
Publiziert: 01.02.2021 um 09:21 Uhr
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Aktualisiert: 01.02.2021 um 14:48 Uhr
Aline Wüst und Alexandra Fitz

Alexandra Fitz: Gestern schaute ich mir Fernsehbeiträge vom Februar 1971 an. Es berührte mich. Jahrzehntelang kämpften Frauen in diesem Land dafür, politisch mitbestimmen zu können. 1971 war es so weit! Die Beharrlichkeit ist ein Grund zu feiern.

Aline Wüst: Oder um wütend zu sein. Sie kämpften für nichts bahnrechendes. Sondern schlicht für Gleichheit. Ein Kampf für das, was für Männer stets selbstverständlich war. Ist es nicht noch immer so? Wir kämpfen immer noch für eine Selbstverständlichkeit.

Fitz: Ja, für gleichen Lohn, um Familie und Beruf, dafür, dass wir nicht sexuell belästigt werden. Aber wenn ich uns so zuhöre, tönt es, als ob unser Leben ein Albtraum wäre. Dabei ist es doch schön, Frau zu sein!

«Der moderne Weg Familie zu sein, scheint mir nicht zu Ende gedacht», sagt Sängerin Jaël Malli zum Thema Muttersein.
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Wüst: Es ist schön! Trotzdem ist da Ungerechtigkeit. Und viel Erschöpfung. Mich hat kürzlich eine Freundin gefragt, ob man sterben kann an Kindern. So erschöpft war sie. Klar sagte sie das halb im Spass. Aber eben nur halb.

Fitz: Manchmal frage ich mich, was Muttersein in der Schweiz 2021 bedeutet? Von den Frauen aus meinem Umfeld höre ich entweder, es sei der einzig wahre Lebenssinn oder aber die totale Selbstauflösung. Ist es nun schön oder schlimm?

Wüst: Fragen wir nach.

(Ein paar Telefonate, Chats und Mails später)

Sängerin Jaël Malli (41, Sohn 3 Jahre) antwortete: «Es hat etwas unfassbar Ursprüngliches, und ich fühlte mich nie so sehr als Homo sapiens und als Teil von etwas Grossem, einem Wunder wie in der Zeit, als ich schwanger war.» / «Ich hatte ein Schreibaby und habe in den ersten eineinhalb Jahren kaum geschlafen. Ich war nicht einfach nur müde, sondern das war eine Art von körperlicher und seelischer Erschöpfung, die ich so bisher noch nie erlebt hatte. Für mich grenzt diese Erfahrung an ein traumatisches Erlebnis.»

Sara (36) ist in einer Führungsposition in einem grossen Verlag und hat einen Sohn (20 Monate). Sie meinte zum Thema Muttersein: «Die bedingungslose Liebe ist irrsinnig bereichernd» / «Wenn ich nicht Mama bin, arbeite ich praktisch Vollzeit; wenn ich Zeit für mich habe, möchte ich gleichzeitig auch sozial sein, feiern etc. Heisst, es ist immer etwas los. Ich bin und war immer gerne alleine, das muss ich mir, seit ich Mutter bin, verdienen, was sehr erschöpfend ist.» / «Verantwortung und Liebe bringen auch eine Menge Ängste mit sich.»

Und Isabel (36, Praxisassistentin,Töchter 13, 11 und 9) sagte: «Mitanzusehen, wie selbständig und erwachsen meine Kinder werden, ist schön.» / «Es ist schwierig, den Kindern aufzuzeigen, was wirklich wichtig ist im Leben. Ich spreche von Bildung oder sozialem Kontakt ohne Handy.» / «Ich habe mir für meine Kinder ein Leben mit einem Vater vorgestellt, in dem es nicht so viel Streit gibt!»

Wüst: Jaël Malli bringt es auf den Punkt:

«Die Frauen in meiner Generation möchten modern sein und profitieren von dem, was unsere Mütter im Sinne der feministischen Bewegung erreicht und erkämpft haben. Dann kommt trotzdem immer wieder die Biologie dazwischen. Ich finde, dass der moderne Weg, Familie zu sein, nicht ganz zu Ende gedacht ist. Wir arbeiten nun und haben Kinder. Doch früher oder später endet es in einem Burnout, weil es dann eben doch zu viel ist.»

Fitz: Das erinnert mich an Eva Illouz. Die israelische Soziologin sagt singemäss: Frauen wollen mehr Freiheit, mehr Mitspracherecht. Aber das heisst nicht, dass es einfacher wird. Jesses, nicht dass man es so versteht, dass wir Frauen zurück in die Küche sollen. – Wobei ich gerne koche!

Wüst: Ich auch! Aber darum geht es nicht.Die Statistik zeigt, dass wir Frauen noch lange nicht vom Herd weg sind. Ein Mann arbeitet pro Woche 14 Stunden und 43 Minuten im Haushalt, eine Frau 23 Stunden und eine Minute. Kürzlich las ich ein Interview mit Bio-Bäuerin Cornelia Capaul in der «Bauernzeitung». Einen Gedanken fand ich spannend. Es ging um Gleichberechtigung auf dem Hof. Sie sagte: «Gegen aussen glänzt nur der Bauer mit seinen Maschinen, seinen Äckern, mit seiner Leistung. Daneben wirkt die Bäuerin wie die Hüterin der kleinen Dinge. Dabei ist sie das Herzstück des Bauernhofs. Dieses Herzstück wird heute zu wenig anerkannt. Doch wenn das Herzstück wegfällt, fällt der Bauernhof auseinander.»

Fitz: Das ist nicht nur auf dem Bauernhof so. Wir Frauen arbeiten gleich viel wie Männer, ein grosser Teil davon ist allerdings unbezahlte Arbeit. Ökonomin Mascha Madörin sagt, dass Frauen jährlich unbezahlte Arbeit im Gegenwert von rund 85 Milliarden Franken leisten. Und obwohl seit 1981 in der Verfassung steht, dass Männer und Frauen gleich sind, bekommen Frauen für die bezahlte Arbeit weniger Lohn als Männer. Es sind 19,6 Prozent. Das Bundesamt für Statistik hat das erfasst. Ein Teil des Unterschieds lässt sich durch Ausbildung und Erfahrung erklären. Für 8,1 Prozent gibt es keine Erklärung. Das sind im Schnitt 657 Franken pro Monat, 7884 Franken im Jahr. Damit könnte eine Frau nette Dinge tun. Dreimal die Miete bezahlen, Ferien für die ganze Familie, ein Occasion-Auto kaufen, eine Weiterbildung machen oder so.

Wüst: Denkt ein Chef: Aha, eine Frau, der gebe ich einen Viertel weniger Lohn?

Fitz: Du weisst, was unsere Kollegen sagen würden. Wir verhandeln zu wenig hart, fordern nicht, pokern nicht. Ich frage jetzt eine Expertin, ob Männer wirklich besser verhandeln.

«Die meisten Schweizerinnen und Schweizer sind nicht gerade Verhandlungskünstler.
Das liegt nicht in unserer Kultur», antwortet Sibyl Schädeli. Sie ist Coach und spezialisiert auf Frauenkarrieren. Sie sagt auch noch, dass Frauen seltener von sich aus nach einer Lohnerhöhung fragen, von ihren Vorgesetzten seltener eine Lohnerhöhung aktiv vorgeschlagen bekommen, in Lohnverhandlungen schlechter abschneiden, und «wenn sie dann doch einmal hart verhandeln, oft als schwierig oder zickig eingestuft werden». Eines sollen wir uns aber merken, sagt Sibyl Schädeli: Alle Tipps und Tricks der Welt seien nichts wert, wenn wir unsere innere Einstellung zum Geldverdienen nicht ändern. Es geht dabei um Aussagen wie «Geld ist mir nicht so wichtig» oder «Hauptsache, die Arbeit ist interessant».

Wüst: Frag Frau Schädeli, was wir konkret tun sollen.

Fitz: Sie rät uns:

  • Versuchen Sie, alle verfügbaren Informationen zum möglichen Lohn in Erfahrung zu bringen.

  • Reden Sie über Ihren Wert für den Arbeitgeber und über Ihr Netzwerk.

  • Bereiten Sie Antworten auf die klassischen Fragen bei Bewerbungsgesprächen schriftlich vor.

  • Üben Sie die Verhandlung mit einer erfahrenen Person.

  • Verhandeln Sie (in Gedanken) für jemand anderen! Frauen verhandeln mindestens so gut wie Männer, wenn sie für andere Menschen einstehen!

Wüst: Warum zahlen Unternehmen nicht einfach faire Löhne? Beim Ellbögeln geht doch nur Energie verloren.

Fitz: Und überhaupt verstehe ich nicht, weshalb wir uns verhalten müssen wie Männer, um erfolgreich zu sein. Auch in Führungspositionen.

Wüst: Gabriela Manser (59) ist CEO der Goba-Quelle im Appenzellerland. Sie beschäftigt 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und das ganze Land trinkt ihr Getränk: Flauder. Manser weiss bestimmt, woran es liegt, dass Frauen nicht nach oben kommen.

Fitz: Und was sagt Madame Flauder?

Wüst: Sie ärgert sich darüber, dass die älteren Herren, die noch immer vor allem in den Spitzenpositionen sitzen, bei einem Bewerber einen Militäreinsatz höher gewichten als drei Jahre Familienmanagement einer Frau.

Gabriela Manser nennt drei Hürden für Frauen. Erstens: «Wenn Männergremien eine Führungsperson suchen, wählen sie keine Frau, die bald schwanger werden könnte. Damit fallen sehr, sehr viele Frauen weg.» Zweitens: Obwohl wir wüssten, wie förderlich für die Kids eine Zeit ausserhalb der Kleinfamilie sei, habe die familienergänzende Betreuung noch immer ein schlechtes Image und es gebe zu wenig Plätze. Drittens: «Es gibt zu wenig Unternehmen, bei denen es normal ist, dass Frauen sowie Männer Führungspositionen in Teilzeit übernehmen können.» Es brauche einen gesellschaftlichen Ruck, damit sich das ändert.

Fitz: Was meint Gabriela Manser damit?

Wüst: Sie sagt, dass sie oft erlebt habe, dass Frauen zwar planen, nach dem Mutterschaftsurlaub wieder in den Beruf einzusteigen, es dann aber nicht tun, wenn es so weit ist. «Mir ist schleierhaft, warum Frauen nicht an ihre Altersvorsorge denken, daran, gemeinsam mit ihrem Partner Verantwortung für das Familieneinkommen zu übernehmen», sagt sie.

Fitz: Weisst du, da kommt mir in den Sinn: Wie oft haben wir schon erlebt, dass wir für unsere Artikel Frauen anfragen, und sie zögern, oder sagen gleich ab, oder fragen zurück: «Warum genau ich?» Während Männer meist schlicht antworten: «Ja klar, wann?»

Wüst: Ja! Das nervt! Obwohl, ich selber bin auch nicht besser. Warum sind wir so? Fragen wir Patrizia Laeri. Sie weiss das.

Fitz: Sie hat mir postwendend geantwortet und zwar: «Das ist natürlich mein Lieblingsthema. Da bin ich gerne dabei.» Patrizia Laeri (44) sagt: «Wenn sich Frauen exponieren, sind sie immer noch eine Ausnahme – gerade in der Wirtschafts-, Sport-, Politik-, aber auch der Wissenschafts-Berichterstattung erklären bis zu 90 Prozent Männer die Welt. Expertinnen fallen deshalb per se schon auf. Sie waren ja auch über Jahrhunderte unsichtbar und hatten keine Stimme in den Medien. Frauen werden aber auch viel kritischer beurteilt als Männer, sind mehr negativen Reaktionen und im Extremfall auch Hass ausgesetzt. Besonders gut mess- und belegbar ist das in den sozialen Medien, in denen sich der Hass im Netz zu 88 Prozent gegen Frauen wendet. Meistens ist diese Gewalt sexualisiert, klar frauenfeindlich und oftmals sehr persönlich. Frauen werden von digitalen Gangs herabgewürdigt, erhalten Dickpicks, Hardcorepornos, in die ihre Köpfe montiert werden, oder werden gar als Prostituierte im Netz angepriesen. Ich spreche auch aus eigener Erfahrung. Eine Frau braucht also eine wesentlich dickere Haut und mehr Mut, öffentlich ihre Meinung kundzutun. Falls Frauen so auftreten wie Männer, aggressiver und lauter, dann wird ihnen das negativ ausgelegt. Kein Wunder, zögern Frauen. Egal, wie kompetent sie sind: Sie werden mit anderen Ellen gemessen.»

Wüst: Hat dir Laeri auch Hoffnungsvolles geschrieben?

Fitz: Ja: «Geschlechter-Stereotypen können sich über die Zeit auch ändern. Je mehr Frauen den Schritt in die Öffentlichkeit wagen, desto selbstverständlicher und fairer werden sie beurteilt werden.»

Wüst: Brutal ist, dass wir Frauen untervertreten sind in Führungspositionen. Aber die Statistik anführen, wenn es darum geht, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. Mich stimmt die Luzernerin Cindy Kronenberg hoffnungsvoll. Kronenberg hat einen Verein gegründet, um Frauen zu helfen, die vergewaltigt wurden. Sie selber wurde vor fünf Jahren an einem Musikfestival von einem Unbekannten vergewaltigt.

Fitz: Hat sie den Mann angezeigt?

Wüst: Zwei Jahre danach.

Fitz: Die allermeisten Frauen machen nie eine Anzeige. Agota Lavoyer von der Opfer-Beratungsstelle Lantana in Bern hat mir erklärt, dass Opfer selten Anzeige machen, weil sie traumatisiert sind; sie fürchten, dass ihnen nicht geglaubt und der Täter in Schutz genommen wird und die langen Verfahren oft eingestellt werden. Layover sagt: «Die tiefe Anzeigequote sollte uns als Gesellschaft Sorgen machen. Denn: Schweigen ist des Täters bester Freund.»

Wüst: Was mich an Cindy Kronenberg so beeindruckt, ist, dass sie eben nicht schweigt. Sie steht hin und sagt: Ich wurde vergewaltigt, es ist passiert, aber ich lebe noch und kann wieder glücklich sein. Die Luzernerin bricht ihr Schweigen, um anderen Frauen Mut zu machen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Sie ist eine Heldin. Ich habe Cindy Kronenberg gefragt, was sie betroffenen Frauen mitteilen will. Sie sagte:

«Eine Vergewaltigung ist nie deine Schuld. Jedes Nein, das nicht akzeptiert wird, ist nicht in Ordnung. Egal, ob vom Ehemann, vom Partner, einem Bekannten oder einem Unbekannten. Egal, zu welchem Zeitpunkt, und egal, wie viel Alkohol oder welche Kleidung du trugst. Ein Nein ist als Nein zu akzeptieren!»

Fitz: Lavoyer fordert genau deshalb, dass wir den Fokus verschieben: weg von den Opfern, hin zu den Tätern. Wir müssen wegkommen von der Haltung, dass Männer infantile, triebgesteuerte Wesen sind, die nicht mal ein Nein verstehen können.

  • Statt das Verhalten der Opfer zu hinterfragen, müssen wir das Verhalten der Täter hinterfragen. Sie sind nämlich diejenigen, die gegen alle gesellschaftlichen Normen und Regeln des Zusammenlebens verstossen. Und sie sind diejenigen, die in jedem Moment die Wahl haben, die Grenze der Frau nicht zu überschreiten.

  • Statt Mädchen zu lehren, dass sie keinen Minijupe tragen sollen, müssen wir Buben lehren, wie sie mit Minijupe tragenden Mädchen umzugehen haben.

  • Statt darüber zu reden, dass wir alle Opfer sexualisierter Gewalt kennen, müssen wir darüber reden, dass wir alle Täter kennen.

Wüst: Recht hat Agota Lavoyer! Aber ich bin irgendwie deprimiert. So vieles muss sich noch ändern.

Fitz: Denk an all die Frauen, mit denen wir in den vergangenen Tagen gesprochen haben. Waren sie deprimiert? Nein. Sie alle sind hoffnungsvoll und kämpferisch.

50 Jahre Frauenstimmrecht – die Serie

Am 7. Februar 1971 sagte das Stimmvolk in der Schweiz – dazumals ausschliesslich Männer – in einer eidgenössischen Abstimmung Ja zum nationalen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Die Schweiz war damit eines der letzten europäischen Länder, das dieses Bürgerrecht auch der weiblichen Bevölkerung zugestanden hat. In einer Serie geht die Blick-Gruppe diesem für unsere Demokratie historischen Ereignis auf den Grund. Wo stehen wir heute, 50 Jahre später, in Sachen Bürgerrechte, Emanzipation und Gleichstellung?

Am 7. Februar 1971 sagte das Stimmvolk in der Schweiz – dazumals ausschliesslich Männer – in einer eidgenössischen Abstimmung Ja zum nationalen Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Die Schweiz war damit eines der letzten europäischen Länder, das dieses Bürgerrecht auch der weiblichen Bevölkerung zugestanden hat. In einer Serie geht die Blick-Gruppe diesem für unsere Demokratie historischen Ereignis auf den Grund. Wo stehen wir heute, 50 Jahre später, in Sachen Bürgerrechte, Emanzipation und Gleichstellung?

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