Schmelze am Nordpol
«Die Arktis, wie wir sie heute kennen, ist verloren»

Bis in 30 Jahren gibt es im Sommer am Nordpol kein Meereis mehr. Die Folgen für die Natur sind dramatisch, aber auch für die Menschen. Was ist noch zu retten?
Publiziert: 11.05.2020 um 16:31 Uhr
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Aktualisiert: 01.08.2020 um 18:18 Uhr
Beat Glogger @higgsmag

Das Eis schmilzt. Seit 1979 hat die Arktis jedes Jahrzehnt etwa 13 Prozent der Meereis-Ausdehnung verloren. Und das grosse Schmelzen wird weitergehen, wie neue Forschungen zeigen. So wird das nördliche Polarmeer im Sommer noch vor dem Jahr 2050 eisfrei sein. «Die Arktis, wie wir sie heute kennen, ist verloren», sagt Gabriela Schaepman-Strub, Professorin für Erdsystemwissenschaften an der Universität Zürich.

Den Klimawandel in der Arktis hat die Umweltwissenschaftlerin Victoria Buschman im Norden von Alaska, wo sie aufgewachsen ist, vor der eigenen Haustür erlebt: «Durch das Schmelzen des Meereises wandert die Küstenlinie jedes Jahr bis zu zehn Meter landeinwärts in Richtung Stadt», sagte sie kürzlich am World Biodiversity Forum in Davos GR.

Derzeit arbeitet die Frau aus dem Volk der Inuit am Institut für Nationale Ressourcen im grönländischen Nuuk. «Ganze Dörfer müssen umgesiedelt werden, weil sie einfach ins Meer rutschen», sagt sie.

Seit 1979 hat die Arktis jedes Jahrzehnt über 10 Prozent ihres Meereises verloren.
Foto: Sobli
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Nicht nur der Ozean rückt näher, die Menschen im arktischen Raum sind förmlich umzingelt von den negativen Folgen der Erderwärmung. Die steigenden Temperaturen setzen der Vegetation zu. Im hohen Norden betrifft dies vor allem Moose und Flechten – für die Arktis sind sie essenziell. Sie isolieren den Boden und bewahren ihn so vor dem Auftauen. Sind sie weg, schmilzt der Permafrost noch schneller, und das setzt darin eingelagertes Methangas frei, welches wiederum als Treibhausgas wirkt und die Erwärmung weiter antreibt. Ein Teufelskreis.

Schutz und Jagd kein Widerspruch

Die Bedrohung ihres Lebensraums habe viele indigene Gemeinschaften politisiert, sagt Victoria Buschman. Von den 250 Gemeinden der nordamerikanischen Arktis, wo sie herkommt, engagiere sich fast jeder in irgendeiner Form in der Forschung oder Politik: Sei dies in Projekten für die Überwachung von Tier- und Pflanzenbeständen oder für das Management von Schutzgebieten. Einerseits bringt dies den Menschen Arbeit und den Gemeinschaften finanzielle Unterstützung. Vor allem aber gehe es um die Ernährung, sagt Buschman.

Einsatz für Naturschutz und gleichzeitig die Tiere jagen, ein Widerspruch? Nicht für die Inuit. «Wenn wir die natürlichen Ressourcen nutzen, kümmern wir uns um sie», sagt die Umweltwissenschaftlerin. Es sei ein grosser Unterschied, ob ein industriell betriebenes Schiff Wale jagt oder die Einheimischen. «Ich stamme aus der grössten Buckelwalfängergemeinde der Welt. Wir dürfen festgelegte Quoten von Buckelwalen jagen. Wir tun dies mit traditionellen Booten aus Walrosshaut und ohne Motor. Das ist sehr gefährlich. Das tun unsere Leute nicht, weil es lustig ist, sondern, um alle in unserer Gemeinschaft ernähren zu können – und weil es Teil unseres Lebensstils ist.»

Tatsächlich hält auch der Biologe Tom Arnbom Jagd und Naturschutz für vereinbar. Er war mehrere Jahre Mitglied der schwedischen Delegation in der internationalen Walfangkommission. Die traditionelle Jagd gefährde die Tierbestände nicht, sagt er. «Wesentlich problematischer ist das Aussterben infolge des Klimawandels.»

Heute 10'000 Rentiere, früher 300

Um dem Artensterben entgegenzutreten, sei es dringend nötig, neue Schutzgebiete auszuscheiden, betont die Biodiversitätsforscherin Gabriela Schaepman-Strub von der Universität Zürich. Derzeit sind in der Arktis circa 20 Prozent der Flächen geschützt. Doch die meisten dieser Gebiete verändern sich infolge des Klimawandels rasch durch Pflanzen und Tiere, die von Süden her einwandern. So werden trotz Schutz einige Vegetationstypen sehr bald verschwinden. «Man müsste Gebiete schützen, die heute noch von Eis bedeckt sind», sagt Schaepman-Strub. Dies, damit seltene Pionierpflanzen, die spezialisiert sind auf karge Böden, neue Gebiete besiedeln können, die von den schmelzenden Gletschern freigegeben werden. Denn es gebe bereits Pläne für den Ausbau der Infrastruktur und die industrielle Entwicklung in der Arktis, mit denen auf die Natur im Norden ein enormer Druck zukomme.

Dass aber Naturschutz in entlegenen Gebieten schwierig sein kann, weiss Schaepman-Strub aus der sibirischen Arktis. Insbesondere, wenn Schutzmassnahmen aus einer Regierungszentrale angeordnet werden.

Andererseits gibt es auch Berichte über übermässig grosse Rentierherden im Westen Russlands – gezüchtet werden sie von Einheimischen. Früher umfassten die Herden 300 Tiere, heute sind es 10'000 und mehr. Die Tiere fressen die Erde kahl und zertrampeln den Boden. Trotzdem berufen sich die Züchter auf ihre Tradition.

Solche Entwicklungen leugnet Buschman nicht, aber sie hat eine Erklärung: «Wenn sich Menschen – egal wo auf der Welt – an den Kapitalismus gewöhnt haben, kann man nicht einfach von ihnen verlangen, dass sie aussteigen. Man muss ihnen eine Alternative anbieten.»

Wer weiss, wie Naturschutz geht?

Stellt sich die Frage, ob das traditionelle Wissen für die Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft der richtige Ratgeber ist. Denn: «Es ist schwierig, heute den Naturschutz für morgen festzulegen», sagt Schaepman-Strub. Wie sich die Ökosysteme verändern werden, könne man nur mit Wissen um Temperaturänderungen und Niederschläge vorhersagen. «Wir müssen nicht nur fragen, welche Landschaften oder Tiere wir heute schützen wollen, sondern welche für die Zukunft geschützt werden müssen und können.»

Aber nicht nur der Naturschutz rüstet sich für die Arktis in einer wärmeren Zukunft: Bergbauunternehmen wollen am schmelzenden Pol Rohstoffe schürfen und nach Öl bohren. Gabriela Schaepman-Strub macht sich keine Illusionen. «Wir werden nicht die gesamte Arktis schützen können.»

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