Schweizer Forschungsdurchbruch
So könnte Botox Schmerzpatienten helfen

Richard Kammerer (58), Professor für Biochemie, hat mit seinem Team einen Durchbruch in der Botox-Forschung geschafft. Er hat ein Protein gefunden, das die Wirkung stark beschleunigt. Weshalb dies für viele ein Segen sein könnte, erklärt er im Interview.
Publiziert: 23.12.2023 um 14:57 Uhr
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Aktualisiert: 23.12.2023 um 16:09 Uhr
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Silvia TschuiGesellschafts-Redaktorin

Herr Kammerer, weshalb ist Ihr Forschungsdurchbruch so wichtig, dass nicht nur alle wichtigen inländischen, sondern auch ausländische Medien darüber berichten??
Richard Kammerer:
Weil unsere Grundlagenforschung über das Nervengift Botulinum Neurotoxin Variante A1, auch als Botox bekannt, in Zukunft sehr viele medizinische Anwendungen ermöglichen könnte, insbesondere auch im Bereich der Behandlung chronischer Schmerzen. Es gibt mehr als fünfzig Anwendungen, für die unsere Forschung wichtigsein könnte – und es kommen täglich neue hinzu.

Sagen Sie mir doch eine…
Kammerer:
Schon heute wird Botulinumtoxin, kurz Botox, in der Schmerztherapie angewendet – oder um übermässiges Schwitzen zu reduzieren. Es dauert aber bis zu sieben Tage, bis es nach einer Injektion wirkt. Ist man nun von schier unerträglichen Schmerzen geplagt, etwa wegen starker Migräne oder wegen Schleudertraumata, ist es ein ungemeiner Vorteil, wenn diese Zeitspanne auf weniger als einen Tag reduziert werden kann. Andere Anwendungen könnten sein, Tumorwachstum zu unterdrücken oder spastische Krämpfe zu verhindern.

Richard Kammerer ist Professor für Biochemie und forscht am Paul Scherrer Institut, das dem ETH-Bereich angeschlossen ist.
Foto: Zvg
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Was genau ist dieses Botulinumtoxin?
Kammerer:
Sie kennen es aus der Schönheitsindustrie unter dem Namen Botox. Gezielt eingesetzt kann das überaus starke Nervengift einzelne Muskeln lähmen, was die Schönheitsindustrie zur Faltenverminderung einsetzt. Bakterien namens Clostridium botulinum produzieren diesen Stoff während ihres Stoffwechsels, der ohne Sauerstoff, also anaerob, abläuft. Man findet diese Bakterien im Erdreich, weshalb auch Lebensmittel kontaminiert sein können. Der Stoff, den sie produzieren, Botulinumtoxin, ist für Menschen und Säugetiere stark giftig und führt zu Lähmungserscheinungen und unbehandelt zum Tod. In der Schweiz gibt es jährlich ein bis zwei Fälle von Botulismus, fast immer sind unsauber konservierte Nahrungsmittel, in denen sich die Bakterien unter Sauerstoffausschluss vermehren konnten, die Ursache. International gibt es ein grosses Forschungsfeld, das sich mit der Suche nach neuen Gegengiften beschäftigt.

Das haben Sie aber nicht, gefunden, oder?
Kammerer: Nein, sondern das Gegenteil, und dies eigentlich zufällig. Wir haben ein Protein hergestellt, ein sogenanntes DARPin (Designed Ankyrin Repeat Protein), welches wie ein Antikörper gegen das Gift wirken sollte. Im Reagenzglas ist zunächst eigentreten, was wir erwartet haben: Das Protein hat die Aktivität von Botulinumtoxin komplett blockiert. Anders sah es dann aber in tatsächlichen Nervenzellen und in Muskelgewebe aus: die Wirkung von Botox, das mit unserem DARPin kombiniert wurde, hat sich in den Nervenzellen sogar beschleunigt. Statt eines Gegengifts haben wir also sozusagen einen Verstärker gefunden.

Richard Kammerer

Richard Kammerer (58) leitet das Labor für Biomolekulare Forschung am Paul Scherrer Institut in Villigen. Der Professor für Biochemie promovierte 1996 summa cum laude an der Universität Basel und forschte danach für drei Jahre an der Universität Manchester. Im Jahr 2000 folgte die Habilitation an der Universität Basel. Er ist der Empfänger mehrere Auszeichnungen und Preise für seine Forschung. Kammerer ist verheiratet und lebt in Basel.

Richard Kammerer (58) leitet das Labor für Biomolekulare Forschung am Paul Scherrer Institut in Villigen. Der Professor für Biochemie promovierte 1996 summa cum laude an der Universität Basel und forschte danach für drei Jahre an der Universität Manchester. Im Jahr 2000 folgte die Habilitation an der Universität Basel. Er ist der Empfänger mehrere Auszeichnungen und Preise für seine Forschung. Kammerer ist verheiratet und lebt in Basel.

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Wie hat es Sie in die Botox-Forschung «verschlagen»?
Kammerer: Im Rahmen einer industriellen Zusammenarbeit mit einem grossen Pharma-Player, konnten mein Forschungsteam und ich zeigen, wie sich Botox an Nervenzellen bindet. Unsere Resultate vor ziemlich genau zehn Jahren waren ein riesiger Erfolg und wurden im renommierten Fachmagazin «Nature» publiziert. Wir sind damals fast etwas naiv an dieses Projekt herangegangen: Im Nachhinein haben wir erfahren, dass sehr viele, teilweise sehr bekannte Spitzenlabors an derselben Thematik geforscht habe. Hätten wir das gewusst, hätten wir dieses Projekt möglicherweise nie gestartet. Wir sind daraufhin zu einer grossen Konferenz, dem Toxins-Meeting in Lissabon, eingeladen worden, wo ich den Hauptvortrag halten durfte. Das Thema hat mich so begeistert, dass ich mich entschieden habe, auf diesem Gebiet weiter zu forschen.

Lucky breaks, also unerwartete Resultate mit verblüffenden Ergebnissen führen in der Forschung oft zu Durchbrüchen – hatten Sie bereits zuvor einmal einen in Ihrer Karriere?
Kammerer: Unerwartete Ergebnisse haben wir ständig – das ist das Schöne an der Wissenschaft: Man trifft eine Annahme, versucht, sie zu beweisen, und erhält vielleicht ein Resultat, das der Annahme komplett widerspricht. Dann war die Annahme falsch und man braucht mehr Informationen, um eine revidierte Annahme zu treffen – die man dann wiederum zu beweisen versucht. So funktioniert Erkenntnisgewinn, Forschung und letztlich Wissenschaft an sich, ein ständiges Revidieren von dem, was man zu wissen glaubt. Das ist Forschung. Einen solchen Lucky Break wie diesen hatte ich bisher allerdings noch nie!

Wie lange, schätzen Sie, wird es noch dauern, bis erste Anwendungen Ihrer Forschung den Weg zu Patienten finden?
Kammerer: Auch im besten Fall wird das leider noch Jahre dauern. Falls die Industrie interessiert ist, muss in zahlreichen Studien ermittelt werden, ob die DARPin/Botox Kombination auch wie gewünscht im Menschen wirkt. Schlussendlich braucht es noch die Zulassung der Behörden – auch das ist ein langer Prozess.

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