500 Jahre Reformation in der Schweiz
Mit einem Lächeln gegen die Kirche

Vor einem halben Jahrtausend begann sich Huldrych Zwingli mit der Kirche anzulegen. 2019 ist das Jubiläumsjahr des Schweizer Reformators mit schlechtem Image. ­
Ein Kinofilm zeigt nun sein wirkliches Gesicht.
Publiziert: 02.01.2019 um 14:01 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 10:54 Uhr
Das Geburtshaus im toggenburgischen Wildhaus SG, wo Huldrych Zwingli 1484 auf die Welt kommt, ist heute ein Museum.
Foto: epd
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Leise rieselt der Schnee auf Zürich nieder. Über die hölzerne Obere Brugg rumpelt ein Pferdefuhrwerk vom Fraumünster herkommend vorbei an der Wasserkirche mitten in der Limmat auf die andere Flussseite.

Huldrych Zwingli sitzt im Leiterwagen und schaut zu den beiden Spitztürmen des Grossmünsters hoch. Noch ein paar Kurven durchs rege Treiben in den Gassen und der 35-Jährige ist an seiner neuen ­Wirkungsstätte in der Hauptkirche der 8000-Einwohner-Stadt. Wir schreiben das Jahr 1519.

Diese Szene eröffnet den Schweizer Spielfilm «Zwingli» mit ­
dem schweizerisch-österreichischen Schauspieler Max Simonischek (36) in der Titelrolle. Regisseur Stefan Haupt (57, «Der Kreis») rollt in seinem neuen Werk, das Mitte Januar in die Kinos kommt, das Leben des Toggenburger Theologen auf und stützt sich dabei mehr auf historische Quellen als auf bekannte Klischees über den Reformator – Drehbuchautorin ­Simone Schmid (39) beschäftigte sich vier Jahre lang mit dem Leben Zwinglis.

Der Dialektfilm beginnt mit dem Schnitt, in dem sich Zwingli vom papsttreuen Priester zum schärfsten Kritiker der damaligen kirchlichen Zustände entwickelt. Mit dem 1. Januar 1519, als Zwingli sein Amt des Leutpriesters – eine Art Volkspfarrer – am Grossmünster anfängt und von der Kanzel gegen die «Maschtsäu i bruune Mönchs­chutte» zu wettern beginnt, gegen Franziskaner, die Ablasshandel betreiben und für Geld Beichten abnehmen.

2019 soll man über den 
Humanisten Zwingli reden

«500 Jahre Reformation» erreicht am kommenden Neujahrstag also auch die Schweiz. Nachdem 2017 Deutschland das halbe Millennium von Martin Luthers Thesenanschlag wider den Ablasshandel an die Schlosskirche des damals kursächsischen Wittenbergs feierte, gedenken jetzt die Schweizer Protestanten ihres Wegbereiters mit diversen Veranstaltungen.

Christoph Sigrist (55) ist Botschafter «500 Jahre Reformation der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons Zürich». «2019 muss in der Zwingli-Stadt eine eigene Dynamik bekommen», sagt Sigrist, Pfarrer am Grossmünster und in dieser Funktion schon der 33. Nachfolger des Reformators. «Ich will das Gespräch über den Humanisten Zwingli in die Gassen tragen.»

Dort will Sigrist vor allem den jahrhundertealten Widerhall vom lustfeindlichen und sittenstrengen Theologen übertönen: Zwingli entwickelte sich zu einem Schimpfwort. Alles, was mit ihm zu tun hatte, galt es zu überwinden. Noch vor wenigen Jahren zitierte die NZZ den Zürcher Stadtrat Daniel Leupi, die Stadt sei wegen des Schwulen- und Lesben-Festivals Pride «deutlich weniger zwinglianisch».

«Immer, wenn Medien das puritanische Zürich bezeichnen wollen, greifen sie zum Ausdruck Zwingli-Stadt», sagt Sigrist. «Aber Zwingli war gar nicht zwinglianisch.» Er trage zu Unrecht diesen Stempel, den man ihm unter dem Eindruck des strebsamen und wenig festfreudigen Protestantismus der Folgejahre aufdrückte.

68er-Bewegung bringt Begriff «zwinglianisch» in Umlauf

Über Generationen zum negativen Bild des Reformators beigetragen hat das abgehobene Zwingli-Denkmal bei der Zürcher Wasserkirche: Ein martialischer 3,7-Meter-­Metallmann mit Bibel und Schwert, den gestrengen Blick in die feindlichen katholischen Lande der Innerschweiz gerichtet.

Den unnahbaren Koloss des österreichischen Bildhauers Heinrich Natter (1844–1892) richtet man «per Exgüsi» 1885 hinter dem Kirchenbau an der Limmat auf, nachdem der Zwingli-Platz vor dem Grossmünster (zu schief), der Fraumünsterplatz (zu verkehrsreich) und der Lindenhof (zu verkehrsarm) nicht infrage kamen.

Damals schon unbeliebt, ist die Statue heute vollkommen unzeitgemäss. «Das Zwingli-Denkmal sollte man entfernen», sagt denn auch Peter Opitz (61), Professor am In­stitut für Schweizerische Reformationsgeschichte der Universität ­Zürich, in einem Beitrag des Reformierten-Portals ref.ch. «Ich glaube, Zwingli fände dieses Denkmal gar nicht angebracht, und man hat Zwingli überhaupt nicht begriffen, wenn man ihn so darstellt.»

Selbst wenn das Denkmal genug Anlass gegeben hätte: Opitz ist überzeugt, dass der negative Begriff «zwinglianisch» erst mit der antiautoritären 68er-Bewegung vor 50 Jahren aufkam. Diese These erhält Unterstützung, wenn man im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) die Verlaufskurve der Nutzung dieses Adjektivs in Zeitungen seit 1945 betrachtet: Sie hebt erst nach 1968 richtig ab.

Gar nicht zwinglianisch ist der Spielfilm «Zwingli»: Er rückt die historisch verbürgte Figur ins Bild und erzählt die erst heimlich und später offensiv ausgetragene Liebesgeschichte zwischen dem Kirchen- bzw. Lebemann und der Zürcher Witwe Anna Reinhart (1484–1538), dargestellt von Schauspielerin Sarah Sophia Meyer (34, «Schellen-Ursli»). Zwingli und Reinhart heiraten und zeugen vier Kinder.

Zwingli spielte Hackbrett, Harfe, Laute, Geige und Waldhorn

Grossmünster-Pfarrer Sigrist kann mit Fug und Recht sagen: «Zwingli war ein freudvoller, lustiger und musikalischer Mensch.» Er verweist darauf, dass der gebildete Bauernsohn ein guter Sänger war und zwölf Instrumente beherrschte, unter anderen Hackbrett, Harfe, Laute, Geige, Flöte und Waldhorn, weshalb ihn seine Gegner als ­«Luthenschlager und evangelischen Pfyffer» verspotteten.

Auch wenn Zwingli später die Musik aus der Kirche verbannt, hält er privat weiter daran fest, «mit den Seinen fröhlich zu sein, die Laute von der Wand zu nehmen und dem jungen Volk etwas vorzuspielen», schreibt der Historiker Oskar Farner (1884–1958) in seinem Buch «Der Reformator Huldrych Zwingli» aus dem Jahr 1949.

Der Leutpriester zeigt sich auch bei der Arbeit lebensfroh. «Man warf ihm vor, zu humorvoll zu predigen und zu viel Stadthistorie einzubauen», sagt Sigrist. Gelächter in der Kirche und in der Predigt über Sachen sprechen, die das Volk versteht – das geht dem Bischof von Konstanz, in dessen Einflussbereich Zürich zu dieser Zeit gehört, entschieden zu weit.

Doch gerade das macht das Prinzip Zwingli aus. Und er lässt keine Zeit verstreichen: Gleich am ersten Tag seiner Tätigkeit in Zürich – am Mittwoch, 1. Januar 1519 – liest Zwingli eine Messe, notabene am Tag seines 35. Geburtstag. Und schon beim ersten Mal setzt er sich über Rituale hinweg: Er tauscht gewisse Texte aus und beginnt sofort mit der Auslegung von Matthäus 1.1, dem Stammbaum von Jesus im ersten Evangelium des Neuen Testaments. «Damit bekam die kirchliche Staumauer erste Risse», sagt Pfarrer Sigrist.

«Diss ist das buoch von der geburt Jesu Christi, der da ist ein sunn Davids, des suns Abrahams», beginnt das Matthäus-Evangelium in Zwinglis deutscher Übersetzung. Unerhört! Erstmals kann das einfache Kirchenvolk verstehen, was in der Bibel steht und wird nicht mit einer lateinischen Messe für blöd gehalten. Selber des Hebräischen, Griechischen und Lateinischen kundig, überträgt Zwingli vor Publikum die Evangelien ins Deutsche, gestützt auf den 1516 in Basel veröffentlichten griechischen Text des Neuen Testaments von Erasmus von Rotterdam (1466–1536).

«Der einzige Schweizer 
Beitrag zur Weltgeschichte»

Man darf sich seine Predigten im Grossmünster durchaus wie einen Workshop vorstellen. Anders als Martin Luther ist Zwingli bei der ­Bibel-Übersetzung nämlich kein Einzelkämpfer. Im Chor des Gotteshauses, wo bis anhin die Priester ihre klerikale Show abzogen, ­debattiert er über jedes Wort mit seinen Gesinnungsgenossen – allen voran mit St.-Peter-Pfarrer Leo Jud (1482–1542), im Film dargestellt von Anatole Taubman. «Zwingli war der Ansicht, es müsse eine Streitkultur aufgebaut werden», sagt der jetzige Grossmünster-Pfarrer Sigrist, «und man müsse im öffentlichen Raum streiten.»

Das Kollektiv um Zwingli veröffentlicht bis 1529 die Heilige Schrift in mehreren Bänden. Der Drucker Christoph Froschauer (1490–1564) publiziert darauf «Die gantze Bibel, getruckt zuo Zürich, im Jar als man zalt 1531» – die älteste protestantische Gesamtausgabe des Alten und Neuen Testaments, drei Jahre vor der Luther­bibel. Ein historisches Ereignis. «Der einzige Schweizer Beitrag zur Weltgeschichte», nennt der Schweizer Historiker Thomas Maissen (56) denn auch die vor genau 500  Jahren durch Zwingli angestossene Reformation in der Schweiz.

Tatsächlich hat Zwingli Austrahlung bis nach Ungarn, Polen, Schottland und in die USA. Und in der Schweiz verläuft die Kirchenspaltung weit friedlicher als in ­Luthers Heilig Römischem Reich Deutscher Nation. Zwar massakrieren sich Katholiken und Protestanten auch hier bei den beiden ­Kappelerkriegen (1529 und 1531) und den zwei Schlachten in Villmergen AG (1656 und 1712). Luthers Land aber wird während des Dreissigjährigen Krieges (1618–1648) weitgehend verwüstet.

Diese unterschiedliche Entwicklung liegt mitunter in den andersartigen Charakteren der beiden ­Reformatoren begründet. Zwinglis Vater war Ammann im Toggenburg. «Als Politikersohn war der Staat für Huldrych Zwingli also ­etwas Vertrauenswürdiges», sagt Sigrist, «und er trieb als politischer Humanist die Transformation voran.» Er arbeitet eng mit der Zürcher Regierung zusammen, vor allem mit den ihm wohlgesonnen Bürgermeistern Röist – zunächst mit Vater Marx, ab 1524 mit Sohn Diethelm. Dadurch legitimiert Zwingli sein Tun politisch und bekommt in der Auseinandersetzung mit dem ­Bischof von Konstanz erst noch Unterstützung durch den Grossen Rat.

Zwingli schimpft Luther 
einen «Menschenfresser»

«Luther war demgegenüber ein Mönch, der bloss mit Fürstenmacht überlebte», sagt Sigrist. «Luther suchte einen gnädigen Gott, Zwingli eine gerechte Gesellschaft.» Zum Zerwürfnis zwischen den beiden kommt es wegen der Deutung des Abendmahls: Zwingli sieht darin nur Symbolik, für Luther ist die Hostie der Leib Christi. Zwingli schimpft ihn darauf «Menschenfresser», Luther bezeichnet seinen Widersacher als «Zwingel».

Wie unterschiedlich die beiden ticken zeigt sich auch in den Mitteln, mit denen sie die Kirchenmacht provozieren: Der verkopfte Luther nagelt seine Thesen am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche zu Wittenberg, der lebenslustige Zwingli nimmt am ersten Fastensonntag 1522 beim Zürcher Wurst­essen in der Druckerei Froschauer teil. Luther betreibt eine Egoshow, Zwingli sieht sich als Teil eines Kollektivs.

Symptomatisch das Ende der ­beiden: Luther stirbt 1546 und ist seit dem 22.  Februar in ebendieser Schlosskirche begraben und verewigt. Zwingli kommt beim Zweiten Kappelerkrieg ums Leben – 
die gegnerischen Katholiken der Innerschweizer Kantone schlagen ihm am 11.  Oktober 1531 den Schädel ein, vierteilen seinen Leichnam, verbrennen ihn und verstreuen die Asche in alle Winde.

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