BLICK-Besuch in der Notwohnungssiedlung Brothuuse
«Mein Optimismus hält mich am Leben»

In der Notwohnungssiedlung Brothuuse in Zürich-Affoltern finden Menschen, die sich in die Gesellschaft zurückkämpfen, vorübergehend Obdach. Einer von ihnen ist Reto Moser (49). BLICK hat ihn zu Hause besucht.
Publiziert: 15.11.2019 um 08:47 Uhr
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Aktualisiert: 26.01.2021 um 14:07 Uhr
Seit 2012 besteht die Notwohnungssiedlung Brothuuse. Die zweistöckigen Minergie-Gebäude sind in Zürich-Affoltern und bieten aktuell 29 Bewohnern ein Dach über dem Kopf und Unterstützung.
Foto: CTF
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Corine Turrini Flury

Der Geist des 2018 verstorbenen Pfarrers Ernst Sieber (†91) ist im Gemeinschaftsraum der Notwohnungssiedlung Brothuuse unübersehbar. Ein gerahmtes Bild vom Gründer des gleichnamigen Sozialwerks steht auf dem Regal im Raum, wo die Bewohner nach Bedarf Gemeinschaft pflegen, einmal im Monat zusammen essen oder sich mit den Seelsorgern aussprechen.

Eigene Zimmer und Gemeinschaftsräume in Minergie-Häusern

Seit 2012 gibt es die Siedlung mit fünf Häusern im Minergie-Standard in Zürich-Affoltern. Aktuell bewohnen 29 Menschen je ein Zimmer in den zweistöckigen Gebäuden mit den Drei- oder Sieben-Zimmer-Wohnungen.

Pro Etage steht jeweils ein Bad zur Verfügung, und im Erdgeschoss verfügen die Wohnungen über eine Küche für die Bewohner. Reto Moser* (49) lebt seit 2012 in einem Zimmer einer Sieben-Zimmer-Wohnung. Stolz erzählt er im Gespräch mit BLICK von Begegnungen und Unterhaltungen mit Pfarrer Sieber: «Er fehlt. Ich durfte ihn kennenlernen, und er erinnerte sich immer an meinen Namen.»

Den Boden unter den Füssen verloren

Aufgewachsen als Scheidungskind mit drei Geschwistern in ärmlichen Verhältnissen ist Moser in jungen Jahren auf die schiefe Bahn geraten und war heroinsüchtig. «Ich habe aber immer, wenn es Arbeit gab, gearbeitet und hatte eine eigene Ein-Zimmer-Wohnung.» Als Dachdecker und als handwerklicher Allrounder, kam er finanziell über die Runden.

Den Boden unter den Füssen hat er verloren, als seine Mutter starb. «Sie stand trotz meiner Drogensucht immer hinter mir und gab mir Halt.» Mosers Absturz ging schnell und heftig: kein Job, keine Wohnung, drogensüchtig, obdachlos. «Ich wollte nicht von Sozialhilfegeldern leben und hatte schlechte Erfahrungen mit Ämtern gemacht. Da blieb nur das Leben als Obdachloser.» Moser war ganz unten. Mehr als einmal habe er daran gedacht, seinem Leben ein Ende zu setzen. «Mein Optimismus hält mich aber am Leben», sagt er zu seinen Schicksalsschlägen und seinem Leben.

Nach eineinhalb Jahren auf der Strasse kam er dann im temporären Wohnprojekt namens Brotstube in Zürich-Oerlikon unter, später bis zum Abriss in einem Haus der Sieber-Stiftung in Ringlikon ZH. Dort blieb er bis zur Eröffnung von Brothuuse in Zürich-Affoltern. «Hier fühle ich mich wohl. Es braucht aber für das Zusammenwohnen Toleranz und Kompromisse, damit es untereinander funktioniert.»

Unterstützung, wo nötig

Moser konnte in der Wohnsiedlung zur Ruhe kommen und sein Leben mit Unterstützung des Brothuuse-Leiterteams rund um Teamleiterin Tabitha Gerber neu ordnen. «Wir bieten hier den Menschen ein Dach über dem Kopf, sie können ankommen, und wir unterstützen sie beim Weiterkommen», erklärt Teamleiterin Gerber das Konzept.

Von wenigen Monaten bis hin zu einigen Jahren, wie bei Moser, bietet Brothuuse Unterstützung auf dem Weg zurück in die Gesellschaft und in ein selbständiges Leben. Reto konnte so wieder Vertrauen fassen, arbeitet, wenn immer möglich, als Handwerker und erhält, wenn nötig, Unterstützung vom Sozialamt. «Seit sechs Jahren bin ich weg vom Heroin und nehme Methadon. Ich bin aber gesund, und ich kann und will arbeiten», sagt der 49-Jährige.

Ein Ziel vor Augen

Momentan hat er keine Anstellung, sondern arbeitet einmal pro Woche bei der reformierten und katholischen Kirche in Zürich-Affoltern im Rahmen eines Arbeitsprojekts. Er ist unter anderem für Umgebungsarbeiten oder Toilettenreinigung zuständig. Ausserdem sind seine handwerklichen Fähigkeiten in Brothuuse immer wieder gefragt. «Es ist wichtig, dass ich Tagesstrukturen und Arbeit habe», sagt Reto.

Diese Ansicht teilt auch Gerber, und sie attestiert Moser Zuverlässigkeit, Sorgfalt und Sauberkeit in und um die Häuser. Sauberkeit und Ordnung sind Moser wichtig: «Es ist aber in meinem kleinen Zimmer etwas schwierig, Ordnung zu halten. Mein ganzes Hab und Gut ist in einem einzigen Zimmer untergebracht.»

Sein Ziel ist klar: Er möchte eine Festanstellung finden und wieder eine eigene kleine Wohnung. Rund 1200 Franken im Monat könnte er für eine eigene Wohnung bezahlen. Der Optimist glaubt daran, dass er nach sechs Jahren in Brothuuse wieder in der Lage ist, ein eigenständiges Leben zu führen. «Bhüeti Gott», sagt Moser zum Abschied, wie auch Pfarrer Sieber zu sagen pflegte, mit einem warmen Lächeln. Er wirkt optimistisch, dass sich für ihn irgendwo bald eine neue Tür öffnet.

* Name geändert

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