Die Innenstadt der Zukunft
Wie sich Schweizer Städte gegen das Ladensterben wappnen

Das digitale Zeitalter fordert seinen Tribut: Seit 2010 gibt es in Schweizer Innenstädten über 6000 Läden weniger. Jetzt sind neue Konzepte gefragt. Biel, Olten, St. Gallen und Zürich machen es vor.
Publiziert: 06.10.2019 um 18:16 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2019 um 08:32 Uhr
Tarzan Streetwear zur Belebung der Strasse an der Spisergasse 40 in St. Gallen.
Foto: Andrea Brunner
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Daniel Arnet

Rund sechs Millionen Menschen – so viele Kundinnen und Kunden gehen Jahr für Jahr an der Bahnhofstrasse 75 in Zürich ein und aus. Ende Januar 2020 ist Schluss. Der angekündigte Auszug von Manor sorgte kürzlich landesweit für Schlagzeilen: Das Warenhaus sollte statt der jährlich sechs Millionen neu 19 Millionen Franken Miete zahlen – wieder ein Traditionsgeschäft, das dem Kostendruck zum Opfer fällt.

Nicht nur an der Bahnhofstrasse, nicht nur in Zürich – das Ladensterben ist ein Problem in allen Schweizer Innenstädten. Kleine und mittelgrosse Städte sind besonders betroffen. Von Genf bis St. Gallen laufen Passanten vermehrt an Schaufenstern vorbei, hinter denen keine Auslagen sind, sondern leere Ladenlokale. Und es trifft nicht bloss die kleinen Geschäfte: In der Luzerner Altstadt schloss H&M Anfang Jahr seine Filiale. Ein schlechtes Omen, denn wenige Monate zuvor titelte «Die Zeit» alarmistisch: «Ohne H&M stirbt die Stadt.»

Ein grundlegender Strukturwandel zeichnet sich ab

In den letzten zehn Jahren sind in allen Schweizer Städten über 6000 Verkaufsstellen verschwunden, über eine halbe Million Quadratmeter Ladenfläche stehen leer. Ein Teufelskreis: Je weniger Geschäfte es hat, umso weniger Laufkundschaft gibt es, was zu weiteren Schliessungen führt – irgendwann ist ein Strassenzug tot, bald ein ganzer Stadtteil. Das ruft allerorts Stadtentwickler auf den Plan, die dafür sorgen wollen, dass wieder Leben in die Gassen zurückkehrt.

Neue Ideen sind gefragt, denn im digitalen Zeitalter lässt sich das Rad nicht einfach zurückdrehen. Heute lädt man Musik und Filme aus dem Internet runter und kauft sie nicht mehr auf CD oder DVD. Musikläden und Videotheken braucht es nicht mehr. Und dort, wo es noch mehrheitlich Handfestes zu kaufen gäbe, fordert der Onlineversandhandel seinen Tribut: Buchhandlungen können es sich je länger, je weniger leisten, ihr breites Sortiment in teuren Räumen voller Regale feilzubieten.

Ein grundlegender Strukturwandel zeichnet sich ab. Werden wir dereinst an der Zürcher Bahnhofstrasse wohnen? Kinderkrippen anstelle von Kundenparadiesen hinter Schaufenstern? Restauratoren im Tausch für Restaurants? Werkstatt statt Werkschau im Parterre? Zumindest Letzteres wäre nicht neu, denn wie sagt der Schweizer Architekturpublizist und Städtebauexperte Benedikt Loderer (74): «In den Erdgeschossen der Innenstädte waren früher nicht immer Geschäfte, dort waren damals häufig Handwerkerbuden.»

Pop-up-Stores in der St. Galler Altstadt

Städte verändern sich ständig. Als es mit der Migros ab 1948 erste Selbstbedienungsläden gab, starben Tante-Emma-Läden. «Heute haben wir das längst verschmerzt», sagt «Stadtwanderer» Loderer. Aufgrund dieser historischen Erfahrung bereitet ihm die aktuelle Entwicklung in Schweizer Innenstädten nicht allzu grosse Sorgen. «Es ist ein Problem für Hauseigentümer, die Angst um ihre Preise haben», sagt er. «Die vermieten ihre Liegenschaften lieber nicht, als dass sie mit den Preisen runtergehen.» Aber das werde sich geben. 

Doch die Städte wollen nicht tatenlos zuwarten und wehren sich jetzt schon aktiv gegen die öde Downtown. Diesen Sommer riefen in Olten SO Gewerbetreibende und Politiker die Aktion «Olten GO!» ins Leben. Die Wirtschaftsförderung will dort nicht auf grosse Handelsketten warten, sondern selber auf interessante Ladenkonzepte zugehen oder leere Ladenflächen durch Vermittlung und Zurverfügungstellung städtischer Liegenschaften zwischennutzen lassen.

Mit der vergünstigten Zwischennutzung machte man in St. Gallen bereits gute Erfahrungen. Sogenannte Pop-up-Stores – zeitlich befristete Nutzung eines leeren Geschäfts durch meist lokale Jungunternehmer – gehören zum Zehn-Punkte-Plan des Projekts «Zukunft Innenstadt», das vor gut drei Jahren startete.

Kleider statt Kredite in der Schalterhalle

An diesem Pop-up-City-Projekt beteiligt sich auch die Stadt Zürich. Sie will insbesondere in den Aussenquartieren Witikon und Höngg schauen, welche Angebote an leeren Räumen sich mit welchen kurzfristigen Nachfragen überschneiden. Das Problem: Das Angebot wächst ständig, während die Nachfrage gering bleibt. Oder anders gesagt: Die Läden leeren sich schneller, als man sie mit temporären Angeboten füllen könnte.

«Das Schliessgespenst geht um», schrieb die Quartierzeitung «Höngger» am
12. September, nachdem ein weiteres Geschäft in der Nähe des zentralen Meierhofplatzes angekündigt hatte, auf Ende September dichtzumachen. Angesichts solcher Tatsachen bleibt die Zürcher Stadtentwicklerin Anna Schindler (51) realistisch und sagt in einem Interview: «Das klassische Bild, ein florierendes Lädeli neben dem anderen, wird es nicht mehr geben.»

Ein Umdenken ist nötig. Als die UBS ihren Hauptsitz an der Zürcher Bahnhofstrasse renovierte, schrieb sie in ihrem Architekturkonzept: «Mit der Sanierung möchte UBS auch eine langfristige Nutzungsflexibilität schaffen, indem die verschiedenen Zugänge zur Bank und zu den Ladengeschäften voneinander unabhängig gemacht und die Büroflächen flexibel strukturiert werden.»

In der altehrwürdigen Schalterhalle gibt es heute Kleider statt Kredite: Das englische Modelabel COS hat dort Ende 2018 seinen Schweizer Flagship-Store eröffnet. Doch sollten die Briten dereinst die Segel streichen, wäre dort drin ein anderes Konzept denkbar. «Denn die Stadt besteht nicht bloss aus Detailhandel», sagt Benedikt Loderer. «Viele dieser Flächen könnte man auch für etwas anderes als Geschäfte nutzen.»

Flexible, kleinteilige Nutzungskonzepte gefragt

So bietet die Zürcher Kantonalbank weiter oben an der Bahnhofstrasse im Erdgeschoss ihres Hauptsitzes unter dem Projekttitel «Freiraum» kostenlos Workshop-Räume an. Und in der ehemaligen Schalterhalle der Credit Suisse am Paradeplatz hat sich das Restaurant Bärengasse eingemietet.

Flexible, kleinteilige Nutzungskonzepte sind heute gefragt. Die Zeiten, in denen ein ganzes Gebäude von einem Geschäft besetzt ist, neigen sich dem Ende zu. So präsentiert sich Jelmoli schon seit Jahren als Shop-in-Shop-Gallery und nennt sich The House of Brands (Das Haus der Marken).

Mehrere statt nur eines einzigen Mieters, das will auch die Versicherung Swiss Life als Eigentümerin des Manor-Gebäudes nach der Schliessung des Warenhauses und einer zwei- bis dreijährigen Sanierung. In den oberen Etagen sind Büros geplant, im Parterre Flächen für rund zehn Mieter. «Früher wären es vielleicht Boutiquen gewesen», lässt sich Swiss-Life-Konzernchef Patrick Frost (48) in der NZZ zitieren, «heute geht es in Bahnhofsnähe je länger, je mehr Richtung Gastronomie.»

«Gastro-Betriebe verdrängen Büros und Shops», lautete denn auch kürzlich eine Schlagzeile im BLICK. Und weiter: «Dort, wo Geschäftsleute Businesslunchs abhalten, Mamis sich zum Käfele treffen und Jugendliche nach der Schule rumhängen, ist fruchtbarer Boden für Gastro-Betriebe.»

Dank Bahnhöfen boomt das Geschäft

Was für stark frequentierte Strassen und Plätze in Grossstädten richtig ist, muss in Aussenquartieren oder kleinen und mittleren Städten nicht unbedingt stimmen. Das ruft die Politik auf den Plan. In St. Gallen etwa wollen Bürgerliche das Gewerbe finanziell entlasten und ihm so das Überleben ermöglichen; demgegenüber wollen Linke eine Lenkungsabgabe einführen, um Vermieter von leerstehenden Ladenflächen in der Innenstadt zu tieferen Zinsen zu zwingen, damit das Lokal erschwinglich wird.

1799: Die Händler kommen zu den Kunden in die Stadt – Markt in Lugano.
Foto: Rocco Torricelli
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Recht und Infrastruktur – das sind in der Schweiz die einzigen politischen Instrumente für die Stadtplanung, sagt Benedikt Loderer. «Das sind die zwei grossen Schrauben, an denen man drehen kann.» Welchen Einfluss etwa der Ausbau des öffentlichen Verkehrs hat, kann man in Zürich beobachten. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Aussenquartieren Witikon und Höngg, die zu Schlafstätten verkommen, boomen Altstetten und Oerlikon dank ihrer Bahnhöfe und der damit verbundenen Pendlerströme.

Wegen der Laufkundschaft florieren dort Geschäfte. Das wiederum fördert die Bautätigkeit: Alte Industrieanlagen führt man neuen Funktionen zu, Hochhäuser schiessen in den Himmel – mit neuen Ladenflächen im Erdgeschoss. Neubauten im Gürtel, Auskernungen in der City – die neuen flexiblen Nutzungskonzepte fordern Opfer. In mancher Altstadt ist nur noch die Fassade alt.

Heute muss der Verkäufer zum Käufer kommen

Anders in Biel BE, wo die Altstadt absolut intakt sei, wie der in Biel wohnhafte Loderer sagt. «Das ist deshalb so, weil hier die Altstadt nicht das kommerzielle Zentrum ist wie etwa in Zürich», sagt er. «Und nichts erhält die Bausubstanz besser als Armut: Wenn Leute kein Geld haben, flicken sie ihre Häuser; wenn sie Geld haben, reissen sie ab und bauen neu.»

Die Crux: In der Bieler Altstadt fehlt es an Laufkundschaft, weshalb dort besonders viele Läden leer stehen. Mit der Aktion «First Friday» bringt man jetzt zumindest einmal im Monat Leben in die Gassen. Denn zuerst braucht es Menschen, dann stellt sich das Geschäftsleben von alleine ein.

Kunden sind nämlich bequem geworden: Nahmen sie früher gerne einen Weg auf sich, um zu einem bestimmten Laden zu gelangen, so müssen heute Verkäufer zu den Käufern gehen, wenn sie erfolgreich sein wollen – wie schon die Marktfahrer im Mittelalter. Deshalb blühen Läden in Bahnhöfen auf, deshalb welken abgelegene Shoppingcenter.

So gesehen sind die jährlich sechs Millionen Manor-Kunden auch eine Chance für die Nachmieter. Denn die meisten reisen nicht extra wegen des Warenhauses in die Zürcher Innenstadt, sondern pendeln auch nach Januar 2020 täglich durch die Bahnhofstrasse von und zur Arbeit – und die gehen bei passenden Angeboten zukünftig gerne weiterhin bei der Nummer 75 ein und aus.

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