ETH-Professorin Sonia I. Seneviratne
Das Klimasystem könnte sich irreversibel umorganisieren

Die globale Erwärmung nimmt stetig zu, die Situation verschärft sich schnell. Klimawissenschaftlerin Sonia I. Seneviratne erklärt, was mit Kipppunkten des Klimas gemeint ist. Das Erreichen dieser kritischen Schwelle würde viel Unsicherheit mit sich bringen.
Publiziert: 07.08.2024 um 09:30 Uhr
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Aktualisiert: 07.08.2024 um 09:42 Uhr
Sonia I. Seneviratne

Ein Thema, das oft diskutiert wird, sind Kippelemente oder Kipppunkte des Klimas. Was ist damit gemeint? Wie der menschliche Körper ist auch das Klimasystem ein komplexes System, das aus vielen Komponenten besteht, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Der Weltklimarat definiert Kipppunkte im Klimasystem so: «Eine kritische Schwelle, bei deren Überschreitung sich ein System – oft abrupt und/oder irreversibel – umorganisiert.»

Während die Auswirkungen der bisherigen Veränderungen im Klimasystem bereits beträchtlich sind und Menschen – auch in der Schweiz – bereits an den Folgen des menschengemachten Klimawandels sterben, würde das Erreichen von Kipppunkten noch viel mehr Unsicherheit für die Zukunft bedeuten.

Zu diesen Kippelementen des Klimas zählen unter anderem der mögliche rasche Verlust des grönländischen oder des westantarktischen Eisschilds, das Absterben des Amazonas-Regenwalds oder ein plötzliches Auftauen der borealen Permafrostböden. Diese Kipppunkte hätten weitreichende Folgen, und einige könnten auch zu einer weiteren und raschen Erwärmung des Klimasystems führen. So würde zum Beispiel das Absterben des Amazonas-Regenwalds eine Senke für heutige CO₂-Emissionen zerstören und zudem viel zusätzliches CO₂ freisetzen.

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Basierend auf der wissenschaftlichen Beurteilung des Weltklimarats wird nicht erwartet, dass solche Kipppunkte unterhalb von 1,5 °C globaler Erwärmung erreicht werden. Einige könnten aber bereits zwischen 1,5 °C und 2 °C globaler Erwärmung überschritten werden. Dies sollte nicht vergessen werden, da wir bereits eine mittlere globale Erwärmung von etwa 1,3 °C erreicht haben.

Vor zehn Jahren betrug die globale Erwärmung noch etwa 1,1 °C. Die Situation verschärft sich also sehr schnell. Es besteht auch eine grosse Unsicherheit über die Prozesse, die zu klimatischen Kipppunkten führen. Es ist zudem möglich, dass die Klimamodelle wichtige Rückkopplungen im Klimasystem unterschätzen, zum Beispiel die Auswirkungen von Dürren auf den Kohlenstoffkreislauf, wodurch bestimmte Kipppunkte schneller als erwartet erreicht werden könnten.

Das Pariser Abkommen von 2015, das von 195 Staaten, darunter die Schweiz, angenommen wurde, sieht vor, Bemühungen zu unternehmen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen. Man könnte meinen, dass 1,5 °C globale Erwärmung nicht viel sind. Aber für den menschlichen Körper sind 1,5 °C Fieber (38,5 °C) schon beunruhigend. Mit dem Klimasystem ist es genau so. Wir wollen nicht empirisch herausfinden, wann empfindliche und irreversible Kipppunkte des Klimasystems erreicht sein könnten. Auch deshalb lohnt es sich, die globale Erwärmung in den Griff zu bekommen und unsere CO₂-Emissionen rasch zu reduzieren.

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