Frank A. Meyer
Ein Lehrstück

Publiziert: 03.09.2017 um 12:12 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 13:00 Uhr
Frank A. Meyer, Kolumnist.

Der Zürcher «Tages-Anzeiger» weiss, was Sache ist – und hält damit nicht hinter dem Berg. Zum Beispiel bei folgendem Thema: «Bald können die Alten alle anderen überstimmen. Warum sie trotzdem keine Gefahr für die Demokratie darstellen.»

Zwei harmlose Sätze. Eigentlich. Sie kündigen dem Leser an, dass alles nicht gar so schlimm sei mit den Alten, dass die Demokratie nicht Schaden nehme, obzwar Masse und Macht älterer Wähler wachse und wachse.

Beat Metzler, der Autor des Artikels, argumentiert so: Trotz gemeinsamen Alters führten die Senioren politisch kaum Gemeinsames im Schilde, pflegten sie doch ganz unterschiedliche Meinungen und wählten deshalb auch ganz unterschiedliche Par­teien: «Überzeugungen sind zäher als Kopfhaare, man behält sie bis ins Greisentum. Wer als 30-Jähriger FDP wählt, tut das meist auch mit 90.»

Man seufzt als Leser erleichtert auf.

Und greift sich an den Kopf.

Weil Fragen auftauchen – und aufschrecken:

Was, wenn die ältere Generation mehr gemeinsame Interessen in die politische Waagschale werfen ­würde? Wäre dann die Demokratie aus dem Gleichgewicht? Gar in Gefahr? Gibt es in der Demokratie überhaupt ein Generationen-Gleichgewicht, das einzuhalten ist? Müsste ein verrutschtes Gleichgewicht durch Änderung der demokratischen Regeln wiederhergestellt werden?

Gottlob sind die Älteren noch unbedenklich. Bedenklich dagegen sind Erwägungen wie die des ehrenwerten Kollegen Metzler. Ob gut gemeint oder nicht: Sie erklären die Demokratie zur vorläufigen Übereinkunft, von der grundsätzlich abgewichen werden kann, wenns denn sein muss; die man aus zwingend erscheinenden Gründen verändern darf, beispielsweise wegen störender Überalterung der Gesellschaft. Das tut man zwar nicht oder noch nicht, aber man könnte.

Was könnte man? Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr hat ihr Rezept bereits im Juni 2016 präsentiert: 18- bis 40-Jährige sollen bei Abstimmungen und Wahlen zwei Stimmen erhalten, 40- bis 65-Jährige anderthalb und über 65-Jährige nur noch eine Stimme. Dies forderte die Sozialdemokratin, wobei der Begriff «Demokratin» zu streichen ist. Denn wer das Stimm- und Wahlrecht nach Generationen gewichtet, ist kein Demokrat.

Demokratie heisst: Eine Bürgerin/ein Bürger – eine Stimme. «One man – one vote».

Etwas anderes ist nicht Demokratie. Denn Demokratie ist die politische Praxis der Gleichheit. Und Gleichheit ist der Grundstein der Freiheit.

Man müsste meinen, das habe sich herumgesprochen. Man müsste sogar meinen, das gehöre bei Schweizerinnen und Schweizern geradezu genetisch zum politischen Bewusstsein.

Auch dem «Tages-Anzeiger» ist die Quintessenz der Demokratie nicht entgangen. Das Zürcher Blatt wählt dafür folgende Wendung: «Gleichberechtigte Demokratien bauen auf ­einem einfachen Grundsatz auf: Eine Bürgerin hat eine Stimme.»

«Gleichberechtigte Demokratien?»

Auch das ist wieder gut gemeint – und schlecht gedacht: Es gibt keine gleichberechtigte Demokratie – weil eine «ungleichberechtigte Demokratie» keine mehr wäre.

Darf man also gar nicht über die «demokratischen Spielregeln» dis­kutieren? Nein, man darf nicht! Es sei denn, man wolle die Demokratie relativieren, um sie zu zerstören. Ja, die Relativierung selbst ist bereits Zerstörung.

Darum auch ist der ebenso häufig wie gedankenlos verwendete Begriff «demokratische Spielregeln» fatal.

Demokratie ist kein Spiel.

Sie ist alles, was wir haben.

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