Frank A. Meyer – die Kolumne
Festtagsgrüsse

Publiziert: 24.12.2023 um 00:57 Uhr
Frank A. Meyer

Die Festtagskarte von Ignazio Cassis bedarf der Interpretation: Wenn man das Einlageblatt entfernt, wird der Blick auf die Welt frei, und ein indisches Sprichwort wirft sein Licht auf die philosophische Botschaft des Absenders: «Wenn du alles grau siehst, bewege den Elefanten.»

Wer ist der Elefant im Alltag des Aussenministers?

Natürlich das Rahmenabkommen mit der EU, das 2024 endgültig ausgehandelt werden soll – so es denn dem sonnig-fröhlichen Tessiner gelingt, den grauen Trübsinn der vertrackten Thematik durch Bewegen des Elefanten zu vertreiben.

Doch weshalb soll dem Aussenminister morgen gelingen, was er gestern nicht zustande gebracht hat? An keiner politischen Absicht lässt sich leichter zweifeln, zählt doch das Cassis-Bashing landauf, landab zum guten Ton. Im Zürcher «Tages-Anzeiger» war dazu der Schlüsselsatz zu lesen: «… Herr Cassis, von dem man den Eindruck hat, dass er auch nach sechs Jahren noch nicht in seinem Amt angekommen ist.» 

«Herr Cassis» – grossspuriger, verächtlicher geht es kaum.

An Richtern über das verkorkste Verhältnis der Schweiz zur EU herrscht kein Mangel. Gequengelt wird über Lohnschutz, Spesenregelung, Sozialhilfebezug, Unionsbürgerrichtlinie, Europäischen Gerichtshof, Schiedsgericht, und immer wieder über «fremde Richter», Symbolbegriff für all die Schrecknisse, die ein CH/EU-Abkommen über die Schweizerische Eidgenossenschaft bringen könnte – Katzenjammer über das Verhandeln mit der bösen Brüssel-Macht ganz grundsätzlich.

Doch welcher gordische Knoten wäre da überhaupt zu durchschlagen?

Vielleicht liegt es am Namen des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten – an der Bezeichnung, die das Ministerium bis 1979 führte: «Eidgenössisches Politisches Departement», EPD.

Politisches Departement.

Departement für Politik!

Die Politik wurde gestrichen, ersetzt durch «auswärtige Angelegenheiten».

Die Europäische Union, der wirtschaftlich weltmächtige Raum, der Wohl und Wehe der Schweiz bewirkt – eine «auswärtige Angelegenheit»? Die paradoxe Vermeidung des Begriffs «Politik» zählt zur Tradition der Schweizer Politik. Nach dem Motto: «Bitte nicht politisieren, wir wollen sachlich bleiben.» Dürre Sachlichkeit, das soll bescheiden wirken im Gegensatz zur opulenten Politisiererei, wie sie die Welt um uns herum betreibt.

Was aber wäre – so paradox es auch klingen mag – Politik als Aussenpolitik?

Ständerat Daniel Jositsch erklärt es so: «In den vergangenen Jahren hat es dem Bundesrat an Führungswillen und Gestaltungsanspruch gefehlt. Zum Beispiel im EU-Dossier, aber auch in anderen grossen Projekten. Gestaltungsbereitschaft hat etwas mit Risikobereitschaft zu tun. Nicht alle haben den Mut, ein Projekt vorzuschlagen, für das man noch keine Mehrheit hat und von dem man nicht weiss, ob es überhaupt funktioniert.»

Genau da beginnt Politik: vom Projekt zum Kampf um das Projekt – um die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger. Das abgesagte Rahmenabkommen mit der EU wäre auf diesem Wege zu «politisieren» gewesen: Im Kampf um die Mehrheit an der Urne. Doch die Regierung verzichtete auf Politik: Lieber nicht kämpfen, man könnte ja scheitern.

Nach der Philosophin Hannah Arendt (1906–1975) ist Politik gleichzusetzen mit Freiheit – und umgekehrt. Wer auf Politik verzichtet, verzichtet also auf Freiheit – auf seine Freiheit, als Bundesrat, als Ignazio Cassis. Ein weiteres tief durchdachtes Wortspiel der grandiosen Demokratie-Denkerin spricht von der «Freiheit, frei zu sein.» In der Tat bedürfen freies Denken und Handeln der Erkenntnis, dass man frei ist, frei zu denken und frei zu handeln.

Ignazio Cassis muss den Elefanten auf seiner Festkarte bewegen, dann sieht er, was Hannah Arendt meint: das Licht der Politik – als Licht der Freiheit.

Die «auswärtigen Angelegenheiten» der Schweiz müssen Politik werden. Denn nichts bedarf der Politik dringlicher als das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union.

Wie eine aktuelle Umfrage belegt, scheinen die Bürgerinnen und Bürger dies schon verstanden zu haben: Die weit überwiegende Mehrheit – und zwar bis hinein in Wählerschichten der SVP – befürwortet eine politische Lösung mit der EU.

Das Betrübliche an dieser heiteren Kunde ist nur: Die Regierung muss mal wieder gar nicht mutig sein, Politik zu machen – das Volk hat sie überholt.

Fröhliche Festtage!

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