Frank A. Meyer – die Kolumne
Jean

Publiziert: 20.04.2024 um 23:58 Uhr
Frank A. Meyer

Er ist 90. Und er arbeitet gerade an einem Buch. Jean Ziegler arbeitet immer gerade an einem Buch. Das Wort ist seine Waffe – im Kampf für eine gerechtere Gesellschaft, wo auch immer, sogar in der Schweiz.

Das ist die Quintessenz von Jean Zieglers Leben. Alles Weitere sind Stationen des Revoltierers, des Rebellen, des Revoluzzers. 

Revoltiert hat er früh. Bereits gegen seine Herkunft. Und zwar gleich fünf Mal: Sein Vater war Offizier, Jean aber wurde Antimilitarist; er wuchs in wohlhabender Ordnung auf, bürgerlich durch und durch, wurde aber ein linker Linker; er verbrachte seine Jugend in Thun, wurde aber Genfer; er entstammt einer protestantischen Familie, konvertierte aber zum Katholizismus; er war Deutschschweizer, hiess Hans, wechselte aber die Sprachkultur, nannte sich Jean und wurde Romand. 

Foto: Antje Berghaeuser

Ein einziges Ziel erreichte er nicht, trotz aller Verwandlungskünste. Das Ziel seiner tiefsten Sehnsucht – die ganz andere Herkunft: 

Das Arbeiterkind. 

Auch seine frühen Weihen machten diesen Geburtsmakel nicht wett, doch verliehen sie ihm die Aura des hochgeschätzten Genossen: Er war der Chauffeur und Freund von Ernesto Che Guevara, als dieser in der Schweiz die kubanische Nationalbank vertrat – eine prägende Begegnung mit dem grössten Revolutionär jener Zeit. In Paris lernte er das Existenzialisten-Paar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre kennen – eine innige Freundschaft mit den bedeutendsten Weltdenkern der Nachkriegsphilosophie.

Jean Ziegler legte los mit seinem Buch «Eine Schweiz – über jeden Verdacht erhaben». Es war die publizistische Eröffnung einer jahrzehntelangen Anklage gegen die Eidgenossenschaft als Tummelplatz für Geld-Gauner aus aller Welt. Und für Geld-Gaunereien in aller Welt. 

Jean Ziegler gegen die Macht des Geldes – wo immer sie ihr zynisches Geschäft betrieb. 

Jean Ziegler – gegen die Schweiz? So jedenfalls empfand es das bankenhörige Bürgertum und bekämpfte ihn mit allen Mitteln, vom Verleumden bis zum Verklagen. Jeannot, wie Freunde ihn liebevoll nennen, geriet in Not, auch in Finanznot. Ans Aufgeben dachte er keine Sekunde.

Seine Bücher waren bis zur Überspitzung anklägerisch, bis zur Provokation polemisch – und in Einzelheiten nicht immer präzise. Aber wie hätte es anders sein können bei diesem rhetorischen Temperament, bei diesem Romantiker der edlen Absicht! Auch konnte er ja nicht in die Tresorräume der Banker vordringen. 

Doch die Skandale der Geldhäuser waren Beweisführung genug – Volltreffer des Ziegler-Beschusses: von der Weltfinanzkrise unter massiver Schweizer Beteiligung bis zur CS-Karambolage. Zwischendurch immer wieder Skandale, die als Betriebsunfälle abgetan wurden, ebenso wie Banker-Boni noch und noch. Vorkommnisse wie bestellt, um dem Hans aus Thun in Genf recht zu geben. 

Auch international wurde der kühne Schweizer bald berühmt. So fragte Deutschlands damaliger Bundeskanzler Helmut Kohl einen Gast aus der Schweiz: «Lesen Sie Jean Ziegler?» Als der Gast bejahte, setzte der Christdemokrat hinzu: «Was er schreibt, stimmt alles.» 

Dem Schweizer Ziegler entsprang der internationale Ziegler: Er wurde zum Uno-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung berufen, hinzu gesellten sich Uno-Funktionen für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. 

Jean Ziegler – die Schweiz. 

War das ein Ärgernis? Es war ein Glück – das als geldgierig geschmähte Land auf der globalen Bühne vertreten durch einen Guten. Die Marke Jean Ziegler als Marketing für das freundliche Alpenland. 

Auch in der Schweiz selbst setzte sich der Zürnende durch – mit einer Kulturrevolution: Alles Geschehen in der heimischen Finanzindustrie gilt seit seiner ersten Kampfschrift als kontaminiert und darum generell als kritisch zu betrachten, sogar als prinzipiell wenig vertrauenswürdig, jedenfalls nicht vergleichbar mit der Werte schaffenden Wirtschaft des Schweizer Kapitalismus.

Jean Ziegler ist das schlechte Gewissen der Schweiz. Und wie das so ist mit dem schlechten Gewissen – seine Wirkungsweise ist dialektisch: Wer ein schlechtes Gewissen hat, darf guten Gewissens sündigen, weiss er doch, dass sein sündiges Tun stets der Korrektur bedarf, ebenso der Beichte. Und dass ja die Aussicht auf Absolution besteht. 

Im Übrigen ist Jean Ziegler ein Liebender: Er mag die Menschen so sehr und so ausdrücklich, dass er Feindschaften im persönlichen Umgang ausblendet, ja vergisst.

Bis zum nächsten Buch.

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