Frank A. Meyer – die Kolumne
Markt und Wert

Publiziert: 12.04.2020 um 09:27 Uhr
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Aktualisiert: 12.04.2020 um 12:09 Uhr
Frank A. Meyer

Der Zürcher «Tages-Anzeiger» meldete den Verlust in einer Titelzeile: «Tidjane Thiams Salär sinkt auf 10,7 Millionen Franken».

Was bedeutet das für die mitfühlende Öffentlichkeit? Tröstliches: dass der einstige Chef von Credit Suisse für sein letztes Amtsjahr rund 900'000 Franken im Monat kassiert – ja, im 
Monat! Ähnlich viel verdient der Chefarzt an einem Spital – in fünf Jahren!

Ebenfalls gemäss «Lohnbuch 2020» der Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich liegt der Monatslohn einer Pflegefachfrau bei 5600 Franken. Zum Vergleich sei wiederholt: Der Monatslohn des Ex-CS-CEO betrug 900'000 Franken.

Es geht bei diesen Gegenüberstellungen nicht um den Menschen Tidjane Thiam, den guten Gatten, den treuen Freund, den liebenswürdigen Onkel – was immer der Banker für seine Nächsten auch sein mag.

Was zu verdeutlichen ist, kann ebenso am Beispiel von Philipp Rickenbacher abgehandelt werden. Der neue Boss des Bankhauses Julius Bär ist seit vergangenem September im Amt – und kassierte in den ersten sechs Monaten bereits 4,4 Millionen Franken.

Auch im Fall von Philipp Rickenbacher geht es nicht um den Menschen. Gewiss ist er ebenfalls mit privaten Tugenden ausgestattet, wie man sie sich für den Paten eines Kindes wünschen würde.

Worum geht es dann? Es geht um den Wert von Leistung im globalisierten Kapitalismus. Und damit um die Frage: Ist die Leistung des Chefarztes oder der Pflegefachfrau an einem Zürcher Spital weniger wert als die Leistung eines Geldgewaltigen?

Die schlechten Corona-Zeiten sind gute 
Zeiten, um sich ganz konkret und ohne jede Polemik Gedanken zu machen über die Wertschätzung von Arbeit in einer Gesellschaft, die für sich gern den edlen Begriff Leistungsgesellschaft in Anspruch nimmt.

Was die Ärzte und Krankenschwestern seit Wochen leisten, ist ohne Beispiel. Sie tun es unter ständiger Gefahr für die eigene Gesundheit. Opferbereit infizieren sich nicht wenige von ihnen bei der Arbeit mit dem 
Virus. Das Ziel, dem sie sich ganz und gar hingeben, heisst: Leben retten.

Man stelle sich vor: Der Topbanker, vom 
Coronavirus infiziert, in Lebensgefahr auf der Intensivstation, angeschlossen an ein ­Beatmungsgerät, schliesslich genesen dank des unermüdlichen Einsatzes von Schutz­engeln in unförmiger Plastikhülle – erschiene ihm da nicht der Wert der Spitalarbeiter plötzlich bedeutender als der Wert seiner Geldgeschäfte? Müsste er nicht zum Schluss gelangen: Mit dem Lohn dieser Menschen stimmt etwas nicht – und mit meinem Lohn stimmt noch viel weniger?

Womöglich würde dem Geldhändler jäh bewusst, dass die Ärzte und Krankenschwestern die Verantwortung für sein Leben trugen – für ihn, den sonst so Mächtigen, für ihn, den plötzlich so hilflosen, angsterfüllten, nackten Menschen.

Und es wäre wohl nichts als folgerichtig, wenn er, der Herr über Milliarden, sich fra­gen würde: Was ist eigentlich meine eigene­ Verantwortung, die ich doch stets ins Feld führe, um mein Millionengehalt und meine Millionenboni zu recht­fer­tigen? Ja, was ist meine ganz konkrete Verantwortung, wenn ich mich am goldenen Fallschirm von meinem Unternehmen verabschieden kann, nachdem ich es in die Krise geführt habe?

Einfache Gedanken, weiss Gott! Zudem ganz und gar nicht ökonomisch korrekt, geht es doch bei der Entlöhnung von beruflichen Leistungen um ­einen Markt. Und die Gehälter von Thiam und Rickenbacher sind nun mal Marktlöhne, Löhne des globa­lisierten Manager-Marktes. ­Darum auch haben sie rein gar nichts zu tun mit den Marktlöhnen für Ärzte und Pflegefachfrauen – mit diesem Hinweis fertigen die Markt-Theoretiker für gewöhnlich Wirtschaftsbanausen ab, die vorwitzige Fragen stellen.

In der Tat hat die unermesslich verwöhnte globale Geldelite abgehoben in die Gefilde einer ganz eigenen Wirklichkeit, völlig losgelöst von der wirklichen Wirklichkeit. Nun aber herrscht gerade die wirkliche Corona-Wirklichkeit – und fordert die Neuvermessung wirklicher Werte.

Denn wer ist in diesen Tagen, Wochen, ­Monaten unverzichtbar wertvoll: der Arzt oder der Credit-Suisse-Thiam? Die Pflegefachfrau oder der Bank-Bär-Rickenbacher?

Es werden Tage kommen, da hat auch der Banker wieder seinen gewohnten Wert. Doch muss es die horrende Überbewertung sein, wie seine Kaste sie bisher als selbstverständlich erachtet hat? Auch der Arzt und die Krankenschwester haben im Alltag dann wieder ihren gewohnten Wert. Doch muss es die anstössige Unterbewertung sein, wie sie die Gesellschaft bisher gedankenlos hingenommen hat?

Im demokratischen Rechtsstaat ist der Kapitalismus ein lernendes System. Die Gesellschaft und damit die Politik hat ihm in der Geschichte immer wieder auf die Sprünge geholfen – und gezeigt, wie sich der Kapitalismus als segensreiche Wirtschaftsordnung für möglichst viele Menschen bewähren kann.

Es wäre wieder einmal an der Zeit dafür.

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