Josef Hochstrasser über Kirche und Ukraine-Krieg
«Neutral und solidarisch geht nicht»

Wer Christ sein will, kann gar nicht anders als sich gesellschaftspolitisch engagieren, findet Pfarrer Josef Hochstrasser. Und: Kirchen müssen Farbe bekennen. Im Falle des Krieges Blau-Gelb.
Publiziert: 19.03.2023 um 08:15 Uhr
Josef Hochstrasser*

Angenommen, Sie bewohnen zusammen mit Ihrer Frau und zwei Kindern eine Fünfzimmerwohnung. Eines Tages poltert jemand an Ihre Wohnungstüre. Kurz darauf kracht es. Die Türe zersplittert. Ein Mann dringt ein. Ultimativ erklärt er, er habe hier einmal gewohnt und fordere erneut Wohnrecht. Zwei weitere Männer erscheinen. Sie besetzen das Bad, die Küche und eine Stube. Was tun Sie? Mit den Eindringlingen verhandeln? Worüber? Die Wohnung gehört ja Ihnen. Hilfe anfordern? Sobald Sie dies tun, zücken die Männer Ihre Waffen.

Vor einem Jahr erklärte Wladimir Putin der Ukraine den Krieg. Es gibt Gründe, die Tat Putins zu verstehen. Nicht ein einziger Grund rechtfertigt aber seinen Angriffskrieg.

Neutral und solidarisch schliessen sich aus

Wie soll ein Christenmensch auf diesen Krieg reagieren? Wegschauen? Geht nicht. Das ist feige. Sich dem westlichen Muster anschliessen: Putin ist der Feind, Selenski der Freund? Geht auch nicht. Das ist zu undifferenziert.

Für Pfarrer Josef Hochstrasser ist es für die Kirche keine Option, bei Krieg wegzuschauen.
Foto: Thomas Meier
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Ein Christ wird sich an seinem Meister aus Nazareth orientieren. Der meint: Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin. Das hiesse konkret: Die Ukraine muss sich abschlachten lassen, von der Landkarte verschwinden. Weltfremd? Keineswegs. Jesus sagt ja nicht: Wenn du siehst, dass jemand geschlagen wird, dann schau einfach tatenlos zu.

Ein Christ wird sich vehement für eine Lösung am grünen Tisch einsetzen. Und wenn sie nicht gelingt, was im aktuellen Krieg in der Ukraine der Fall ist? Dann muss sich auch ein Christ entscheiden. Lebt er in der Schweiz, steht er vor der Alternative: neutral bleiben oder solidarisch handeln?

Die Mär vom unpolitischen Christentum

In der Bibel steht eine hochaktuelle Geschichte. Räuber schlagen einen Mann halb tot. Ein Priester passiert die Stelle, geht einfach vorbei. Ein Mann aus Samaria kümmert sich um den Überfallenen. So weit, knapp geschildert, das Lehrstück des Juden Jesus. Nimmt jemand sein Christsein ernst, sind die Würfel gefallen. Seine uneingeschränkte Solidarität gilt der überfallenen Ukraine. Der Mann aus Samaria war nicht neutral. Er handelte solidarisch. Gesetze sind immer interessengeleitet, nie objektiv. Sie dienen nicht in jedem Fall dem Wohl von Menschen. Das gilt auch für die Neutralität der Schweiz. Neutral und solidarisch schliessen sich gegenseitig aus. Aus christlicher Sicht gilt es, der Ukraine gegenüber solidarisch zu handeln, auf allen Ebenen, auch und vordringlich auf der militärischen. Es ist verlogen, die Ukraine mit Geld und Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen, nur nicht mit Kriegsmaterial, und dabei zu meinen, neutral zu sein.

Ich höre schon wieder die alte Mär vom unpolitischen Christentum. Wer Christ sein will, kann gar nicht anders als sich gesellschaftspolitisch engagieren. Die Quelle seines Handelns ist Jesus. Er landete am Kreuz der Weltmacht Rom, gerade weil er sich mit den vom Leben Geschlagenen solidarisierte und sich um sie kümmerte. Das Christentum ist keine Grüssaugust-Religion. Kirchen dürfen nicht lavieren. Sie müssen Farbe bekennen, sonst verraten sie ihren Meister. Die aktuelle Farbe ist Blau-Gelb.

*Josef Hochstrasser (75) war bis zu seiner Heirat römisch-katholischer Priester. Seither ist er reformierter Pfarrer. Hochstrasser hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt das 2017 im Zytglogge-Verlag erschienene «Die Kirche kann sich das Leben nehmen – Zehn Thesen nach 500 Jahren Reformation».

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