Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über den ausufernden Staat
Vom Leben in der Steuerplantage

Der Staat beansprucht je nach Land etwas mehr oder etwas weniger als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Gleichzeitig wird behauptet, er werde kaputtgespart. Wie kann das sein?
Publiziert: 16.10.2023 um 06:20 Uhr
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Das Rätsel ist gross und ungelöst: Wie kann es sein, dass der Staat in der Moderne ständig wächst, während die öffentliche Meinung nicht müde wird zu behaupten, er werde kaputtgespart? Peter Sloterdijk (76), ein Meister wacher Zeitgenossenschaft, umkreist in seinem neuen Buch «Zeilen und Tage III» das Thema mannigfach. Der Philosoph blickt auf die Gegenwart, als würde er ihr nicht angehören. Und kommt zu überraschenden Befunden.

Sloterdijk erinnert an den preussischen Ökonomen Adolph Wagner (1835–1917), der das Gesetz von der Ausdehnung der Staatstätigkeit bereits um 1860 formulierte. Demnach gebiert Staatswachstum laufend neues Staatswachstum, weil erstens die Bürokratie neue Bürokratie hervorbringt und weil zweitens die Nachfrage der Bürger nach Staatsleistungen bei steigendem Volkseinkommen zunimmt.

Je wohlhabender die Bürger, desto bequemer

Sloterdijk spinnt diesen Gedanken weiter: Je wohlhabender die Bürger, desto bequemer sind sie – und desto unmündiger gebärden sie sich. Am Ende lassen sie sich alles gefallen, als wären sie nicht Bürger, sondern wohlbestallte Untertanen. Zugleich gilt: Je feinkörniger die Betreuung der Bürger durch den Staat, desto unsichtbarer wird der Staat. 

Die Staatsquote steigt und steigt. Eine Frau füllt die Steuererklärung aus.
Foto: Keystone

Dabei herrschen in Europa – fiskalisch betrachtet – längst wieder absolutistische Zustände: Der Staat beansprucht je nach Land etwas mehr oder etwas weniger als die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts. Nach Sloterdijk ist ausgerechnet Frankreich, dessen Bürger einst eine Revolution anzettelten, um alle gleich zu besteuern, die Avantgarde des neuen Halbsozialismus. Lag der Staatsanteil 1789 bei 10 Prozent, sind es heute knapp 60 Prozent.

Sloterdijk: «An den französischen Grenzen sollten Schilder aufgestellt werden: Willkommen in Europas grösster Fiskalplantage!»

Verständnis für Steuerflucht

Wer angesichts solcher fiskalischer Zustände von Neoliberalismus spricht, muss ein Komiker sein. Statt über «nicht gehaltene Versprechen» des Staates zu jammern, sollte man dringend über «erstarrte Illusionen» reden.

Steuern sind in halbsozialistischen Staaten progressiv – je mehr man verdient, desto mehr zahlt man nicht nur absolut, sondern auch relativ. Sloterdijk: «Jedes Erstsemester in Fiskalsachen sollte wissen, dass die wohlhabenderen 10 Prozent für die Hälfte der Einkommenssteuer gut sind.»

Kann es da verwundern, dass manche überlegen, wie sie sich der Fiskalokratie entziehen können? Sloterdijk: «Man sieht im Steuerflüchter ein asoziales Schaf, das dem Schermesser entkommen möchte. Früher stand auf Wollehinterziehung die Abschlachtung. Heute bietet man Schafen, die sich selbst anzeigen, die Nachrasur an.» Ein kleiner Fortschritt. Immerhin.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick. 

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