Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
450'000 Gefährdete sind nicht geimpft. Was kümmert das die SVP?

Optimisten dachten, mit der Impfung sei die Pandemie überwunden. Leider haben sie ihre Rechnung ohne den Irrationalismus und den Leichtsinn vieler Menschen gemacht. Erst recht unterschätzt haben sie die verbreitete Feindseligkeit gegenüber dem Staat.
Publiziert: 01.08.2021 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 03.08.2021 um 08:13 Uhr

Das Sehnsuchtswort unserer Zeit lautet Normalität. Seit dem 1. August 2020 ist der Begriff hierzulande in rund 33'000 Zeitungs- und Onlineartikeln erschienen – zehnmal mehr als vor Corona. «Normalität» wird beschworen, weil eben nichts normal ist. Und das wird wohl noch eine Weile so bleiben.

Optimisten hatten darauf gesetzt, mit der Impfung sei die Pandemie zumindest in unseren Breiten überwunden. Leider hatten sie die Bequemlichkeit, den Leichtsinn und den Irrationalismus vieler Zeitgenossen nicht auf der Rechnung. Erst recht die Feindseligkeit, die eine überraschend hohe Zahl von Schweizern und Schweizerinnen offenbar ganz grundsätzlich gegenüber dem Staat und seinen Institutionen hegt. Wenn der Staat zum Impfen aufruft, schreien diese Leute reflexartig «Freiheitsberaubung».

Die SVP schürt die Feindseligkeit zusätzlich. Neulich sprach der Schwyzer Nationalrat Marcel Dettling auf Tele Züri von «Impf-Apartheid», wenn ein Zertifikat verlangt wird, um ein Konzert zu besuchen oder ein Schwingfest. Auf Facebook wirbt die SVP nun mit Dettlings Zitat um Mitglieder. Ein weiteres Beispiel für den Zynismus und die Skrupellosigkeit der grössten Partei des Landes in der Pandemie.

Gewiss: Die Spitaleinlieferungen wegen Covid liegen erfreulich tief. Doch sind in der Schweiz laut BAG nach wie vor 450'000 besonders gefährdete Personen nicht geimpft. Wenn auf einen verregneten Sommer die wirklich kalte Jahreszeit folgt, müssen wir hoffen, dass diese 450'000 Menschen vom Virus verschont bleiben. An der Politik ist es ausserdem, jetzt die Fehlanreize zu beseitigen, die jemanden davon abhalten, sich impfen zu lassen. Dazu gehört, dass Nachtschwärmer vor dem Clubbesuch am Wochenende nicht mehr so einfach ein Test-Zertifikat erhalten – zumal die im Freizeitbereich verwendeten Antigen-Schnelltests höchst unzuverlässig sind.

Im Augenblick steht das Impfen im Fokus, Beachtung verdient aber auch, was in der Wirtschaft geschieht. Die Rede ist für einmal nicht vom Corona-Boost für die Digitalisierung. Mindestens ebenso tiefgreifend ist eine andere Entwicklung: Die Weltwirtschaft hängt auf Gedeih und Verderb von den sechs wichtigsten Notenbanken ab, zu denen auch unsere SNB gehört. Ohne die ständigen, immer extremeren Eingriffe der Währungshüter würde heute nichts mehr gehen. «Zentralbankkapitalismus» nennt dies der deutsche Ökonom Joscha Wullweber in seinem gleichnamigen neuen Buch.

Begonnen hat das Zeitalter des Zentralbankkapitalismus mit der Finanzkrise. Seit 2008 leiten die Notenbanken ungeheure Geldströme in die Finanzwirtschaft. Als die Börsen wegen Corona vor dem Totalabsturz standen, öffneten sie die Schleusen noch weiter. Statt Crash erleben die Aktienmärkte deshalb täglich ein neues Kursfeuerwerk.

Das ist natürlich erst einmal sehr positiv. Allerdings müssten die Gewinne, die an den Finanzmärkten eingefahren werden, mit einer beherzten Steuerpolitik wieder abgeschöpft und in die Infrastruktur gesteckt werden: in Schulen und Spitäler, in unsere Rentensysteme, in Stromzapfsäulen für E-Autos. Aber das passiert nicht (und wird auch mit dem von der OECD geplanten Mindeststeuersatz für Firmen von 15 Prozent nicht passieren). Darum profitieren zuallererst jene von der Hilfe der Notenbanken, die ohnehin viel Geld haben. Alle anderen müssen froh sein, wenn sich ihre Situation nicht verschlechtert.

Mit dem Zentralbankkapitalismus erleben wir gerade eine neue Ära des Sozialismus – einen Sozialismus für die Reichen. Das ist ungefähr das absurdeste Gegenteil von Normalität.

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