Foto: Paul Seewer

Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Bringt uns die Energiekrise die Viertagewoche?

In der Schweiz ist die Viertagewoche bislang kein Thema. Bald aber könnte die Diskussion auch unser Land erreichen. Nicht mit Argumenten wie Work-Life-Balance oder Mitarbeiterzufriedenheit. Sondern schlagartig und brutal: Wegen Putins Krieg und der Energiekrise.
Publiziert: 10.07.2022 um 01:20 Uhr
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Aktualisiert: 21.11.2022 um 13:35 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Homeoffice ist eine alte Idee. Vor 50 Jahren prognostizierte der amerikanische Telekomkonzern AT&T, dass spätestens zur Jahrhundertwende sämtliche Büroangestellten von zu Hause aus arbeiten werden. Als das Jahr 2000 gekommen war, gelangte eine Studie allerdings zum Schluss: «Telearbeit wird vielfältig propagiert, aber nur punktuell realisiert.» Es brauchte weitere 20 Jahre und eine globale Pandemie, bis Homeoffice tatsächlich salonfähig wurde.

Noch ist nicht ganz klar, wie es mit der digitalen Heimarbeit weitergeht. Wie viel davon wirkt motivierend auf die Mitarbeitenden – ab wie vielen Abwesenheiten zerfällt eine Organisation? Kürzlich sorgte Tesla-Chef Elon Musk für Schlagzeilen, weil er seine Angestellten in barschem Ton zurück ins Büro beorderte. Dass Homeoffice hierzulande einfach wieder verschwinden wird, ist trotzdem nicht anzunehmen. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik sprechen eine klare Sprache: Im ersten Quartal dieses Jahres waren 40 Prozent der Schweizer Beschäftigten zumindest gelegentlich von zu Hause aus erwerbstätig. Spitzenquoten verzeichneten die Wirtschaftszweige «Information und Kommunikation» (85 Prozent) sowie «Finanzen und Versicherungen» (83 Prozent).

Eine andere alte Idee ist die, dass wir grundsätzlich weniger arbeiten sollten. Mitte der 1930er-Jahre schrieb der britische Philosoph Bertrand Russell: «Ich glaube, dass in der Welt viel zu viel gearbeitet wird. Die Überzeugung, Arbeiten sei an sich schon eine Tugend, richtet ungeheuren Schaden an.» Ungefähr zur gleichen Zeit prophezeite Russells Landsmann, der Ökonom John Maynard Keynes: Im Jahr 2030 werde die Produktivität derart gestiegen sein, dass die Menschen nurmehr 15 Stunden pro Woche arbeiten müssten.

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Der von Keynes erwartete Produktivitätszuwachs wurde bereits im Jahr 1980 erreicht. Von der 15-Stunden-Woche sind wir gleichwohl Lichtjahre entfernt. In Europa gilt Island als besonders aufgeschlossen. Dort wurde zwischen 2015 und 2019 die 35-Stunden-Woche ausprobiert. Dabei stellte sich heraus: Die Menschen erbrachten in kürzerer Zeit die gleichen oder gar besseren Leistungen. Seit einem Jahr haben fast 90 Prozent der isländischen Arbeitnehmenden darum das Recht, für den bisherigen Lohn weniger lang zu arbeiten. In Grossbritannien testen seit einem Monat 70 Firmen die Viertagewoche. Spanien führte unlängst einen ähnlichen Versuch durch. Und ab Herbst darf man in Belgien an vier statt fünf Tagen arbeiten; die Anzahl Stunden soll freilich in etwa gleich bleiben.

Die Schweiz hat diese Entwicklung bislang weitestgehend ignoriert. Im letzten Jahr lag die durchschnittliche Arbeitswoche von Vollzeitbeschäftigten bei 39 Stunden und 16 Minuten. Im Finanzwesen waren es 41 Stunden und 24 Minuten, in der Verwaltung 40 Stunden und 20 Minuten.

Bald jedoch könnte das Thema Arbeitszeitreduktion auch unser Land erreichen. Aber nicht im Zusammenhang mit sanften Stichworten wie Work-Life-Balance, Mitarbeiterzufriedenheit oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Sondern schlagartig und brutal.

Wegen Putins Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine droht der Schweiz im Winter eine Energiekrise, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Wie damals könnten in den ersten Monaten des Jahres 2023 schlimmstenfalls alle möglichen Energieträger rationiert werden. Sollten Strom und Gas effektiv knapp werden, kommen wir an der Diskussion nicht vorbei, wie und wozu wir unsere Ressourcen genau einsetzen wollen. Dann wird es mitunter um die Frage gehen, ob Banker effektiv 41 Stunden und 24 Minuten, Beamte 40 Stunden und 20 Minuten die Woche vor ihrem Bildschirm zubringen müssen.

Genauso wie sich niemand eine Pandemie gewünscht hätte, um der Idee des Homeoffice zum Durchbruch zu verhelfen, so will natürlich niemand eine Energiekrise, um die Viertagewoche zu etablieren. Dennoch werden wir uns, sobald das Ärgste einmal überstanden ist, allesamt fragen: Wieso haben wir diese alte Idee nicht schon viel früher in die Tat umgesetzt?

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