Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Verratene Verkäuferinnen

Je wichtiger eine Tätigkeit, desto geringer sind das Ansehen und das Salär. Das gilt ganz besonders für die Angestellten im Detailhandel. Warum erfahren diese Leistungsträger unserer Wirtschaft so wenig Wertschätzung?
Publiziert: 25.01.2020 um 23:55 Uhr
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Aktualisiert: 25.01.2020 um 23:56 Uhr
Giery Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer

Hand aufs Herz: Würden Sie bemerken, wenn es das WEF in Davos nicht mehr gäbe? Dagegen wären Sie garantiert völlig aufgeschmissen, wenn der Detailhändler um die Ecke plötzlich schliessen ­würde. Man mag von Onlinehandel und digitalem Wandel noch so schwärmen – die 200'000 Frauen und 100'000 Männer in den Supermärkten, Warenhäusern, Bekleidungsgeschäften und Kiosks gehören nach wie vor zu den wichtigsten Leistungsträgern unserer Wirtschaft.

Diesen Spitzenkräften widmen wir heute einen Schwerpunkt. Denn die Bedeutung ihrer Arbeit steht in keinem Verhältnis zur Wertschätzung, die ihnen entgegengebracht wird – oder eben: nicht entgegengebracht wird.

Das ist überhaupt der grosse Widerspruch in unserer Arbeitswelt. Für viele Bereiche gilt: Je wichtiger die Tätigkeit, desto geringer sind das Ansehen und das Salär. Die Angestellten im Detailhandel sind von diesem Paradox ebenso betroffen wie Krankenpflegerinnen, Bauarbeiter, Putzfrauen, Müllmänner, Kita-Angestellte.

Eine oft gehörte Begründung dafür lautet: Diese Berufe erfordern eben keine besondere Qualifikation. Es braucht dafür kein Studium.

Dabei ist so ein Studium ja eine wunderbare Sache! Man geht seinen Interessen nach und verwirklicht sich selbst. Warum genau soll ­dieses geistige Vergnügen auch noch finanziell belohnt werden?

Eine Untersuchung aus Grossbritannien zeigt, dass sich ­Geschäftsführer und leitende Beamte der höchsten Lebenserwartung erfreuen. Dagegen sind Menschen im Niedriglohnsektor einem vier Mal höheren Herzinfarkt-Risiko ausgesetzt. Der amerikanische Kardiologe Bernard Lown, Friedensnobelpreis­träger und gewissermassen der Erfinder des Defibrillators, leitet daraus die Diagnose ab: «Psychische Faktoren, die mit unbefriedigenden, schlecht bezahlten Jobs assoziiert sind, stellen Risikofaktoren für Herzkrankheiten dar.»

Nein, an der Ausbildung liegt es nicht, dass wichtigen Tätigkeiten die gebührende Anerkennung versagt wird. Die ­Sache ist simpler: Die erwähnten Berufe werden mehrheitlich von Frauen und/oder Ausländern ausgeführt. Von Menschen also, über die erstaunlich viele Zeitgenossen heute noch denken, sie hätten ganz grundsätzlich weniger Respekt verdient.

Die Politik sieht es nur bedingt als ihre Aufgabe, Menschen im Niedriglohnsektor zur Seite zu stehen. Sie besser zu schützen und dafür zu sorgen, dass ihr Einkommen wirklich zum Leben reicht. Warum das so ist, lässt sich leicht herausfinden: Wie viele Detailhandelsangestellte ­sitzen im Bundesparlament? Wie viele Putzfrauen?

Wie viele waren diese Woche am WEF in Davos?

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