Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Wer nicht auf Solarstrom setzt, ist unterbelichtet

Eine Schweiz, die von Energieträgern aus dem Ausland weitgehend unabhängig ist, wäre möglich – wenn nur der Wille vorhanden wäre. Wenn wir nur einen Teil jenes Efforts leisten würden, den unsere Urgrosseltern gezeigt haben, als sie die Wasserkraft gross machten.
Publiziert: 22.05.2022 um 09:09 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2022 um 16:09 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Die Zahl wird oft und gerne zitiert: 60 Prozent des Schweizer Stroms stammen aus Wasserkraft. Doch
wie ist es dazu gekommen? Um dies herauszufinden, muss man tief ins Archiv steigen. Hier stösst man zum Beispiel auf einen Artikel im Berner «Bund» aus dem Jahr 1927, in dem es heisst: «Die Brenn- und Betriebsstoffnot während des Weltkrieges verhalf der Elektrizität in unserem Land zum Durchbruch.» Wobei «Elektrizität» gleichbedeutend ist mit «Wasserkraft». Ähnlich tönte es während des Zweiten Weltkriegs. Damals begründete der Direktor der Bündner Elektrizitätswerke den weiteren Ausbau der «einheimischen Wasserkräfte» mit den Worten: «Unsere Wirtschaft muss sich in hohem Masse von Kohle und Öl unabhängig machen.»

Die Landesausstellung 1939 widmete der Wasserkraft einen Pavillon samt Elektrizitätswerk, Stausee und Druckleitung im Massstab 1:50. Der Name dieser aufwendigen Installation: «Elektrizität – die weisse Kohle».

Mit der Unabhängigkeit vom Öl hat es dann zwar nicht geklappt, trotzdem handelt es sich beim Projekt Wasserkraft um einen der beeindruckendsten Erfolge in der Geschichte der Eidgenossenschaft. Und um einen politischen Kraftakt, in dessen Namen vielen Menschen sehr viel zugemutet wurde.

Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor
Foto: Paul Seewer

Im Herbst 1921 etwa berichtete eine Zeitung unter der Überschrift «Opfer der Elektrizität» über das Schicksal von 260 Einwohnerinnen und Einwohnern des Schwyzer Dorfes Innerthal, deren Häuser für den neuen Wägitalersee geflutet wurden. Doppelt so viele Menschen wurden danach ganz in der Nähe für den Sihlsee zwangsevakuiert. Regelmässig regte sich auch Widerstand: Dörfer kämpften gegen ihren Untergang, andere fürchteten ein Bersten der hochalpinen Staudämme. Von Beginn an gab es ausserdem Naturschützer, die den Erhalt der Landschaft wichtiger fanden als die Elektrifizierung.

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Im Jahr 1970 produzierten die Schweizer Wasserkraftwerke mehr als 30 Terawattstunden Strom. Das ist kaum weniger als heute, was im Klartext bedeutet: Die 60 Prozent erneuerbare Elektrizität, auf die wir so stolz sind, haben wir im Wesentlichen unseren Urgrosseltern zu verdanken. Wir halten es wie die ägyptische Tourismusindustrie: Auch die lebt vom Erbe der alten Pyramidenbauer.

Dagegen hinkt die Schweiz bei den sogenannten neuen Erneuerbaren anderen europäischen Staaten weit hinterher. Deutschland erzeugt pro Einwohner das Zweifache an Solarstrom, bei der Windkraft sind es sogar 95 Mal mehr.

Dabei passt gerade die Sonnenergie zu einem auf Dezentralisierung ausgerichteten Staatsverständnis. Im Grunde entspricht sie der Schweiz als einem Land des Föderalismus und der lokalen Autonomie sehr viel besser als die pharaonenhaften Wasserkraftwerke. Für ein völlig anderes Staatsverständnis steht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der gerade erst den Bau 14 neuer Atomkraftwerke ankündigte.

Es ist Sache jeder einzelnen Architektin, jedes einzelnen Bauherrn, neue oder zu sanierende Häuser umfassend zu isolieren und darauf ausreichend Solarmodule zu montieren. Weil dies aber selten geschieht, sollten die Kantone Wärmedämmung und Fotovoltaikanlage gesetzlich einfordern – und den ins Netz gespeisten Strom anschliessend anständig vergüten.

Wie mein Kollege Danny Schlumpf im aktuellen SonntagsBlick zeigt, könnte die Schweiz ihren gesamten Energiebedarf kostengünstig mit Solarkraft decken. Heizen, Warmwasser, Mobilität inbegriffen. Und für jene Tage im Spätwinter, da die Sonne spärlich scheint und die Pumpspeicherseen leer sind, gäbe es ja zusätzlich die Windräder.

Kurz: Eine Schweiz, die von Energieträgern aus dem Ausland weitgehend unabhängig ist, wäre möglich – wenn nur der Wille vorhanden wäre. Wenn wir nur einen Teil jenes Efforts an den Tag legen würden, den unsere Urgrosseltern gezeigt haben. Denn anders als bei einem Stausee verliert wegen einer Fotovoltaikanlage niemand sein Dach über dem Kopf. Im Gegenteil.

Im April 1912 schrieb die «NZZ» sprachlich wackelig, aber einprägsam: «Jeder Tropfen Wasser, der bei einer Wasserkraft ungenutzt davonstiebt, bedeutet eine Vergeudung und einen Verlust für die Volkswirtschaft.» Für die Solarenergie gilt im Jahr 2022 das Gleiche: Jeder Sonnenstrahl, der ungenutzt auf ein Haus trifft, ist ein Skandal, ein Zeichen von energiepolitischer Unterbelichtung.

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