Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty zum Flüchtlingsjahr 2022
Diese Willkommenskultur müssen wir beibehalten – wir haben gar keine Wahl

Solange kein Abzug der russischen Truppen erfolgt, muss die Schweiz mit vielen Zehntausenden Flüchtenden rechnen. Worauf wir uns ebenfalls einstellen müssen: Diese Krise ist nicht schnell vorbei. Wer hierher kommt, wird lange bleiben. Gefragt ist darum ein langer Atem.
Publiziert: 12.03.2022 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2022 um 16:05 Uhr
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Plötzlich herrscht Willkommenskultur. Auf der Homepage des Staatssekretariats für Migration wurden Schutzsuchende aus der Ukraine seit dem letzten Wochenende auf Deutsch begrüsst: «Herzlich willkommen in der Schweiz!» Seit Dienstag gibt es diese warmen Worte sogar auf Ukrainisch. Die Schweiz geht beim Thema Flucht neue Wege. Und lernt dabei ständig hinzu.

Während der Flüchtlingskrise 2015 verlor sich der Bund in Bürokratie. So mangelte es zunächst an Grundlegendem wie Matratzen – die durften sich die Verantwortlichen in den Asylzentren jedoch nicht einfach im nächsten Fachgeschäft besorgen, es galt, den Dienstweg einzuhalten. Bis dahin mussten sich die Flüchtenden eben anders arrangieren. Sieben Jahre später läufts unkompliziert: Bund und Kantone arbeiten Hand in Hand mit freiwilligen Helferinnen und Helfern. Ziel ist es, so viele Neuankömmlinge wie möglich privat zu beherbergen. Und Platz ist zurzeit vorhanden: Tausende möchten den vor Putins Vernichtungsfeldzug Geflohenen Obdach gewähren.

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Im November 1956 schlug die Sowjetunion die ungarische Demokratiebewegung blutig nieder. Nirgendwo sonst war die Solidarität mit den Unterdrückten grösser als hierzulande. In der Schweiz wurden mehr Geldspenden gesammelt als in den USA und der BRD zusammen. Zwischen Dezember 1956 und Januar 1957 erklärte der Bundesrat unter dem Beifall der Bevölkerung die sofortige Aufnahme von 10'000 Kontingentflüchtlingen.

Gieri Cavelty, SonntagsBlick-Chefredaktor
Foto: Paul Seewer

2022 hat mehr von 1956 als von 2015. Es ist darum aber auch wichtig, an die selten erzählte Fortsetzung der Schweizer Ungarn-Hilfe zu erinnern. Anfang Februar 1957 gaben die Behörden in Bern eine Pressekonferenz, eine Zeitung schrieb: «Der Chef der Flüchtlingssektion der eidgenössischen Fremdenpolizei erläuterte die um sich greifende Ernüchterung der Gastgeber über die ungarischen Gäste. Als es darum ging, den Flüchtlingen einen Arbeitsplatz und eine private Unterkunft zu verschaffen, riss man sich um die Ungarn. Aber sehr rasch kehrte die Stimmung im Lande. Es wurde gemeldet, ‹die› Ungarn seien undankbar, anspruchsvoll, unzufrieden mit Lohn, Unterkunft und Verpflegung und vor allem arbeiteten sie nicht wie die Eidgenossen selbst.» Nach bloss sieben Wochen rückte der Bund wieder ab von seiner grosszügigen Aufnahmepraxis: «Illegal Einreisende werden, abgesehen von Einzelfällen, nicht aufgenommen», beschied das Justiz- und Polizeidepartement nun wieder im alten restriktiven Jargon.

Es ist berührend, wie viele Schweizerinnen und Schweizer den Schutzsuchenden aus der Ukraine Beistand leisten. Allerdings besteht die Gefahr von Missverständnissen auch diesmal. Der Staat muss die privaten Helfer logistisch wie finanziell unterstützen. Ohnehin werden letztlich längst nicht alle Flüchtenden auf diese Weise untergebracht werden, da darf man sich keinen Illusionen hingeben. Die Ukrainerinnen und Ukrainer ihrerseits brauchen Integrationsangebote. Leider verhält sich die Sache so: Der Schutzstatus S, der 1998 geschaffen wurde und heute zum ersten Mal zur Anwendung kommt, ist ausdrücklich nicht auf Integration ausgelegt. Die Kantone sind nicht einmal dazu verpflichtet, Sprachkurse anzubieten. Diesen konzeptionellen Fehler muss die Politik unverzüglich korrigieren.

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Wie viele Opfer Putins in die Schweiz fliehen, lässt sich nicht abschätzen. Solange kein Abzug der russischen Truppen erfolgt, ist es ratsam, mit vielen Zehntausenden zu rechnen. Europa erlebt schon jetzt die grösste Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg. Worauf wir uns bis zum Eintreffen des Gegenteils ebenfalls einstellen sollten: Diese Krise wird so schnell nicht vorbei sein. Wer hierherkommt, dürfte lange bleiben.

Zu berücksichtigen sind mindestens zwei weitere Gegebenheiten. Erstens: Die Ukraine gehört zu den wichtigsten Getreide-Exporteuren weltweit. Davon abhängig sind nicht zuletzt die Staaten im Maghreb. In der Ukraine müsste bald das Korn ausgesät werden, was kaum geschehen wird. Absehbare Folgen sind steigende Getreidepreise, zusätzliche Not und soziale Unruhe in Nordafrika – und weitere Menschen, die übers Mittelmeer nach Europa zu gelangen suchen.

Zweitens: Die Führer der serbischen Partei in Bosnien-Herzegowina drohen immer lauter mit Abspaltung. Putin könnte versucht sein, den Konflikt anzuheizen, indem er die Republika Srpska als unabhängigen Staat anerkennt. Was das im allerschlimmsten Fall bedeutet, haben die Neunzigerjahre gezeigt: Noch ein Krieg. Noch mehr Flüchtende.

Heute weht in der Schweiz – wie in weiten Teilen Europas – der Geist von Humanität und Empathie. Was auch immer morgen geschehen wird: Wir können nur hoffen, dass uns der gleiche Geist durch die kommenden Wochen, Monate und Jahre trägt.

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