Geiziger Freund– Thomas Meyer rät
Sprechen Sie offen mit ihm

Ein langjähriger Freund ist wie ich sehr vermögend. Er gehört der jüdischen Gemeinschaft an. Sein ausgeprägter Geiz hat mich (m, 63) dazu gebracht, die Beziehung zu beenden. Wie können wir wieder zusammenkommen?
Publiziert: 14.01.2023 um 16:21 Uhr
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Thomas MeyerSchriftsteller und Kolumnist

Offenbar stellen Sie einen ursächlichen Zusammenhang her zwischen dem Judentum dieses Mannes und seinem Geiz. «Wäre er nicht jüdisch, wäre er nicht so knausrig, und ich hätte kein Problem mit ihm» – so wird Ihre Logik ungefähr lauten. Dabei hat das Judentum dieses Mannes in Ihrer Frage gar nichts verloren, da Sie sich ja angeblich an seinem Geiz stören. Trotzdem haben Sie seine Abstammung in Ihre Zuschrift eingebaut. Das heisst, Sie haben nicht nur Ressentiments gegen Knauserei, sondern auch gegen Juden.

Das ist Ihnen womöglich gar nicht unbedingt bewusst. Das Problem an Vorurteilen ist ja, dass wir sie nicht für Vorurteile halten, sondern für Fakten und folglich nie hinterfragen. Erst recht nicht, wenn eine Person unserem Stereotyp entspricht. Dann sind wir vollends überzeugt, einen lebenden Beweis vor uns zu haben.

Das hat aber nichts mit der Realität zu tun, sondern mit unserer Idee davon. Die Realität sieht so aus: Es gibt unter all den jüdischen Menschen durchaus einige geizige, aber auch viele grosszügige – genau wie unter nichtjüdischen Menschen. Bei einem nichtjüdischen Geizhals denken Sie aber nicht: «Moment mal, der ist doch sicher Jude und verheimlicht es!» Sie denken einfach: «Mann, ist der geizig.»

Geiz ist nicht geil.
Foto: Keystone

Es wäre daher spannend zu erfahren, mit welcher Begründung Sie Ihre Freundschaft beendet haben. Kam das Judentum dieses Mannes darin als Argument vor, wie in Ihrer Frage? Oder haben Sie die Sache hinterher so mit sich ausgemacht?

Wenn Ihnen wirklich an diesem Menschen gelegen ist, sollten Sie jedenfalls mehr leisten, als den Kontakt wieder aufzunehmen. Dann sollten Sie die Eier haben, diesem Menschen ins Gesicht zu sagen, dass Sie seinen Geiz abstossend finden und diesen mit seinem Judentum erklären. Das wäre kein lustiges Gespräch. Aber ein ehrliches.

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